Tag X. V. S. Gerling. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: V. S. Gerling
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783956691447
Скачать книгу
gewissen Kreisen gilt das als unstrittig, ja. Aber die Wahrheit sieht anders aus.«

      »Und wie, bitteschön, sieht diese Wahrheit aus?«

      Schranz seufzte. »Wir müssen unterscheiden zwischen Bürgerkriegs- und Armutsflüchtlingen. Über neunundneunzig Prozent der Flüchtlinge gehören in diese beiden Kategorien. Es handelt sich um Menschen, die ihre Heimat verloren haben oder politisch verfolgt wurden. Darüber hinaus …«

      »Moment«, unterbrach ihn Kuhlmann. »Ein Prozent sind also aus anderen Gründen hier. Wenn ich die Zahlen der letzten Jahre überschlage, haben wir also fast fünfzehntausend Islamisten die Tore geöffnet. Alles potenzielle Terroristen! Wenn das keine echte Bedrohung ist, dann weiß ich nicht weiter.«

      Frenetischer Applaus setzte sein.

      Schranz ertrug die Verdrehung seiner Worte mit stoischer Gelassenheit.

      Er tat mir dennoch leid. Natürlich hatten wir gewusst, dass er hier im Saal keine Freunde haben würde. Aber diese feindselige Stimmung, die sich hier gegen ihn aufbaute, war mehr als unfair.

      Unbeirrt fuhr Schranz fort: »Hinzu kommen noch diejenigen, die wir Roma und Sinti nennen. Und was Ihre Zahlenspielerei betrifft; natürlich haben wir keine fünfzehntausend potenziellen Terroristen ins Land gelassen …«

      »Wie viele sind es dann?«

      »In Deutschland zählen wir Stand heute etwa siebenhundertfünfzig Personen, die als islamistische Gefährder gelten. Gut zweihundert von ihnen befinden sich in Haft.«

      »Und diese Zahl ist sicher?«

      »Sicherer als Ihre fünfzehntausend.«

      Sie diskutierten noch eine Weile über Zahlen, und als Kuhlmann spürte, dass er hier nicht weiterkam, wechselte er das Thema.

      »Herr Minister, wissen Sie mittlerweile, wer für den Ebola-Anschlag verantwortlich war?«

      »So, wie Sie die Frage formulieren, klingt es, als hätten wir bis gestern keine Ahnung gehabt.«

      »Nun, dieser Eindruck ist tatsächlich entstanden.«

      »Bei wem?«

      »Bei den Menschen.«

      »Bei welchen Menschen?«

      »In der Bevölkerung, Herr Minister. Die Menschen haben Angst.«

      »Da wissen Sie aber mehr als ich. Bislang hatte ich nicht das Gefühl, dass es hier ein Informationsdefizit gegeben hat. Und dass die Menschen in Deutschland Angst haben, ist mir ebenfalls neu.«

      Oha, Rainer, das war ein Fehler. Oder aber eine Steilvorlage für mich …

      »Eine interessante Aussage des Innenministers. Es ist ihm neu, dass die Menschen in Deutschland Angst haben. Da muss man sich fragen, wie dicht dran unsere Spitzenpolitiker noch am Bürger sind, nicht wahr?«

      Lautstarker Applaus setzte ein.

      Ich hob die rechte Hand.

      »Ah, eine Wortmeldung«, sagte Kuhlmann und forderte jemanden auf, ein Mikrofon zu mir zu bringen.

      »Jetzt bin ich aber gespannt«, sagte die Frau neben mir.

      16

      »Irgendwie kommt er mir bekannt vor.«

      Klaus Hoffmann

      »Ist das einer von uns?«, fragte der Mann im dunklen Anzug seinen Geschäftspartner, der leger gekleidet war, und nippte an seinem Cognac. Die beiden Männer saßen in der Suite eines Fünf-Sterne-Hotels in der City von Berlin und sahen sich die Talkshow an.

      Sie hatten sich 2002 bei einer Tagung kennengelernt. Beide besaßen Unternehmen, die auch in der Golfregion gute Geschäfte machten und sie waren besorgt über die Entwicklung seit dem 11. September. Gastredner waren unter anderem der damalige Wirtschaftsminister sowie ein Staatssekretär aus dem Außenministerium gewesen.

      Schnell wurde deutlich, dass niemand wusste, was zu tun war.

      Es gab keinen Plan und den würde es auch nicht geben.

      Man konnte nur reagieren, aber nicht selbst aktiv werden.

      Alles lag in den Händen der Männer, die im Weißen Haus das Sagen hatten.

      Die hatten zwar das Sagen, aber keine Ahnung.

      Diese Machtlosigkeit, gepaart mit der Tatenlosigkeit der deutschen Regierung, war die Initialzündung für die beiden Männer gewesen. Sie gründeten eine Art Interessensgemeinschaft mit dem langfristigen Ziel, unabhängiger von politischen Prozessen zu werden, die nur bedingt zu beeinflussen waren.

      Als absehbar war, dass es mit Deutschland nicht in der Art und Weise und mit der Geschwindigkeit nach vorne ging, wie es ihrer Meinung nach möglich und vor allem nötig wäre, wurde aus dieser Interessensgemeinschaft ein Projekt, das von nun an ein vollkommen anderes Ziel verfolgte.

      Vor allem die Sicherheit des Landes machte ihnen große Sorgen.

      Die Polizei war überlastet, schlecht bezahlt und dementsprechend demotiviert.

      Die Bundeswehr war ein gigantischer Verwaltungsmoloch, der viele Menschen beschäftigte, die Entscheidungen trafen, aber kaum jemand wollte Verantwortung übernehmen.

      Leidtragende waren die Soldaten.

      Die Wirtschaft litt unter Führungsschwäche, der Begriff Made in Germany hatte seinen Zenit längst überschritten. Im Bereich Technologie hinkte die Bundesrepublik selbst Ländern aus Asien weit hinterher.

      Die Regierungen, die kamen und gingen, änderten nichts, sondern waren nur mit der Wahrung des Status quo beschäftigt. Und damit, ihre eigene Machtposition auszubauen und zu sichern.

      Nichts ging voran, alles stagnierte.

      Das Land drohte mittelfristig in der Bedeutungslosigkeit zu versinken.

      Ihr aller Vermögen war in großer Gefahr.

      Sie waren sich einig, dass eine Demokratie durchaus Vorteile besaß.

      Jedoch waren die nichts im Vergleich zu den erheblichen Nachteilen.

      Es fehlte an allen Ecken und Kanten.

      Vor allem jedoch mangelte es an Führungsstärke und Entscheidungsfähigkeit.

      Eine funktionierende Autokratie war eine echte Alternative.

      Ihnen schwebte kein zweiter Führer vor. Ganz und gar nicht.

      Schließlich waren sie alles andere als Nazis.

      Aber eine einzige Person an der richtigen Stelle mit den idealen Beratern und dem Rückhalt in der Bevölkerung würde in einem Jahr mehr bewegen als eine komplette Partei in zehn Jahren.

      Die Frage war nun nicht mehr, ob das funktionieren könnte.

      Die einzige Frage war, was getan werden müsste, damit es funktioniert.

      Beide hatten im Laufe ihres Lebens enorme Vermögen angehäuft und ihre einzige Beschäftigung hatte darin bestanden, dieses Vermögen zu vermehren. Dabei waren sie überaus erfolgreich gewesen. Darüber hinaus besaßen sie ein weit verzweigtes Netzwerk ähnlich denkender Menschen, die sich an ihrem Vorhaben finanziell beteiligt hatten. Das ihnen zur Verfügung stehende Kapital betrug mehr als sechs Milliarden Euro und täglich wurde es größer. Schließlich nahm eine Gruppe Kontakt zu ihnen auf, die noch reicher und noch mächtiger war als sie selbst. Diese Gruppe, deren Köpfe anonym blieben, sagte ihnen Unterstützung in jeglicher Form zu.

      Nun konnte man sie wirklich nicht mehr aufhalten.

      Der leger gekleidete Mann, er hieß Leonard Wittgenstein, schüttelte den Kopf. »Nein, den kenne ich nicht.«

      »Irgendwie kommt er mir bekannt vor«, sagte der Mann im Anzug, sein Name war Klaus Hoffmann, nachdenklich und beugte sich etwas vor.

      Wittgenstein