Tag X. V. S. Gerling. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: V. S. Gerling
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783956691447
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nur ein toter Taliban war ungefährlich.

      Merkwürdigerweise schien es so zu sein, dass Castrop niemandem Rechenschaft schuldig war.

      Niemals erhielt er einen Anruf von einem Vorgesetzten, der ihn zum Rapport beorderte.

      Niemals sahen sie ihn Berichte schreiben.

      Es war, als existierten Castrop und seine Einheit überhaupt nicht.

      Aber anders als seine Leute, interessierte sich Castrop sehr wohl dafür, was in Deutschland geschah.

      Seine Aufmerksamkeit galt im Besonderen den endlosen Debatten der Politiker über den Krieg in Afghanistan und im Irak. Oder vielmehr über den humanitären Einsatz, denn Krieg wollte es ja nach wie vor niemand nennen. Castrop war mehr als angewidert von den Bürokraten, die überhaupt nicht wussten, wovon sie sprachen, sich aber für sehr wichtig hielten. Für unentbehrlich.

      Vor allem die Tatsache, dass schwer traumatisierte Kameraden in ihrer Heimat um Anerkennung und finanzielle Entschädigung kämpfen mussten, machte ihn unendlich zornig.

      Er war sich ziemlich sicher, dass er hier im Wüstensand sterben würde.

      Aber falls nicht, falls er wider Erwarten unversehrt nach Hause zurückkehren sollte, schwor er sich, diesen Arschlöchern in Berlin zu beweisen, wie entbehrlich sie in Wirklichkeit waren.

      Castrop war derjenige, der seinen Leuten in wohldosierten Mengen berichtete, was daheim in Deutschland geschah. So setzte er den Samen des Misstrauens in ihnen.

      Den Keim des Zweifelns.

      »Kameraden, das Deutschland, in das wir irgendwann zurückkehren, ist nicht mehr meine Heimat.«

      »Dann holen wir uns unsere Heimat zurück«, sagte Abel.

      Castrop antwortete nicht. Er lächelte nur.

      Er hatte längst damit begonnen, ein Netzwerk aufzubauen.

      Es gab sehr viele Menschen in Deutschland, die mit den Entwicklungen des Landes mehr als unzufrieden waren. Die es für ebenso verwerflich hielten wie er, dass man sich mehr Gedanken über die Krümmung einer Banane machte als über den Zustand der für Sicherheit sorgenden Bundeswehr.

      Die, kaum an der Macht, als einziges Interesse hatten, an der Macht zu bleiben.

      Jede Entscheidung, die es zu treffen galt, wurde unter genau diesen Kriterien abgewogen: Schadet sie mir und meinen Chancen, wiedergewählt zu werden, oder nicht.

      Zum Kotzen.

      Das Volk wurde für dumm verkauft, und merkte es größtenteils nicht einmal.

      Castrop war weit mehr als nur ein Soldat. Er war auch mehr als ein Stratege.

      Castrop war ein Visionär.

      Und er hatte eine Vision, was man aus Deutschland machen könnte.

      Wenn der richtige Mann an der Macht wäre.

      Er dachte dabei nicht an sich. Nein, seine Aufgabe wäre die Aufrechterhaltung der Inneren Sicherheit.

      Und natürlich die Befehlsgewalt über die Armee.

      Er verfügte über ausgezeichnete Kontakte in die oberste Führungsetage des Verteidigungsministeriums. Und deshalb fraßen ihm die Generäle aus der Hand.

      Er war unantastbar.

      Auch, weil er wusste, wer welche Leichen im Keller hatte.

      In Deutschland waren Personen schon längst damit beschäftigt, die Weichen zu stellen, um diese Vision in die Tat umzusetzen.

      13

      »Sie müssen mich nicht belehren.«

      Major Castrop

      Nachdem Major Castrop 2010 seinen aktiven Dienst bei der Bundeswehr beendet hatte, brach er alle Zelte in seiner Heimatstadt ab und zog nach Berlin. Dort begann er seine Tätigkeit als externer Berater für ein internationales Sicherheitsunternehmen. Allerdings diente diese Aufgabe lediglich als Fassade.

      Er war gerade einmal eine Woche in der Hauptstadt gewesen, als der Deutschlandchef des Unternehmens ihn zum Abendessen einlud.

      Ein Ober geleitete die zwei Männer zu einem Tisch in einer diskreten Nische, reichte den beiden Speise- und Getränkekarten und verzog sich wieder. Sie warteten, bis er außer Hörweite war, legten die Karten dann beiseite und Castrops Gesprächspartner, er hieß Olaf Dietrich, kam sofort zur Sache.

      »Die Sache gewinnt an Dynamik«, erklärte er. »Wir befinden uns in Stufe vier und bereiten schon die nächsten Schritte vor.«

      »Kein Geplänkel, das gefällt mir«, antwortete Castrop.

      »Smalltalk ist etwas für Frauen und Schwächlinge«, sagte Dietrich.

      »Was genau ist Ihre Aufgabe?«, wollte Castrop wissen.

      »Es wäre illusorisch, davon auszugehen, wir würden jeden Menschen, den wir für die Umsetzung unseres Vorhabens brauchen, auch dafür gewinnen zu können. Aber da wir diese Personen unbedingt benötigen – sei es, weil sie uns Zugang verschaffen, oder weil sie über besonderes Wissen verfügen – müssen wir einen Weg finden, sie gefügig zu machen.«

      Dietrich beugte sich vor und sah Castrop forschend an. »Jeder Mensch, wirklich jeder, hat eine Schwachstelle. Eine Sollbruchstelle. Diese zu finden, darin besteht meine Aufgabe.«

      »Aha.«

      Dietrich nickte. »Und Ihre Aufgabe wird es sein, diese Schwachstellen zu unserem Zweck auszunutzen.«

      Castrop zuckte gleichmütig mit den Schultern. »Kein Problem.«

      Dietrichs Blick wurde intensiver. »Es kann dabei um Frauen gehen. Aber auch um alte oder kranke Menschen.«

      Castrop hielt dem stechenden Blick stand. »Kein Problem«, wiederholte er.

      »Wie weit würden Sie gehen?«, fragte Dietrich.

      »So weit, wie es sein muss.«

      »Würden Sie auch töten?«

      »Hab ich schon und würde es wieder tun.«

      »Auch Frauen und Greise?«

      Jetzt war es Castrop, der seinen Gesprächspartner forschend ansah. »Es geht hier um die Sache, nicht um die Befriedigung einer perversen Neigung. Würde es mir Spaß machen, Frauen oder alte Menschen zu töten? Nein, natürlich nicht. Ich bin kein Psychopath.« Er beugte sich vor. »Würde ich zögern, es zu tun, wenn es der Sache dient? Nicht eine Sekunde.«

      Ein schwaches Lächeln erschien auf dem schmalen Beamtengesicht Dietrichs. »Wären Sie ein Psychopath, säßen wir hier nicht zusammen.« Dann verschwand das Lächeln, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. »Wie viele Leute stehen Ihnen zur Verfügung?«

      »Einhundertachtzig erfahrene Soldaten«, sagte Castrop.

      »Das wird nicht reichen. Sie brauchen mindestens doppelt so viele«, gab Dietrich zu bedenken.

      »Dann rekrutieren wir mehr. Es gibt genug von denen.«

      »Wie vielen von ihren Leuten können Sie einhundertprozentig vertrauen?«

      »Vier.«

      Dietrich nickte. »Ausreichend. Ich denke, Sie wissen genauso gut wie ich, dass Vertrauen ein sehr kostbares Gut ist.«

      »Sie müssen mich nicht belehren«, knurrte Castrop ungehalten. »Ich habe in Afghanistan nicht überlebt, weil ich ein Idiot bin.«

      »Sie haben recht, bitte entschuldigen Sie.«

      »Schon gut. Was die zusätzlichen Kräfte betrifft; fast zweihundert Männer bedeuten enorme Mehrkosten.«

      Dietrich machte eine wegwerfende Handbewegung. »Glauben Sie mir, Geld ist unser geringstes Problem.«

      Castrop hatte die Kosten im Kopf überschlagen.