Tag X. V. S. Gerling. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: V. S. Gerling
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783956691447
Скачать книгу
Einsatz im Rahmen der Operation Enduring Freedom kennen. Aufklärungseinheiten hatten ein Waffenversteck der Taliban entdeckt, und die beiden Kommandotruppen von Abel und Seifert erhielten den Auftrag, dieses auszuheben.

      Als sie in die Hubschrauber stiegen und abflogen, sahen amerikanische und britische Kommandosoldaten ihnen kopfschüttelnd hinterher. Sie konnten nicht verstehen, dass ihre deutschen Kameraden, vor denen sie Respekt hatten, in fliegenden Särgen unterwegs waren. So nannten sie die Helikopter der Bundeswehr, weil sie nicht gepanzert waren.

      Später stellte sich heraus, dass die Geheimdienstinformationen unvollständig gewesen waren.

      Es handelte sich bei dem Gebäude in der Nähe von Kundus, im Norden Afghanistans, keinesfalls nur um ein Waffenlager. Vielmehr war es ein Vorposten der Taliban, der annähernd vierzig Kämpfern Unterschlupf bot.

      Abel und Seifert führten jeweils vier Männer, also kamen auf einen KSK-Soldaten mehr als drei Taliban.

      Am Ende töteten sie alle feindlichen Kämpfer, verloren aber sechs Männer.

      Zu zehnt waren sie ausgerückt.

      Nur vier kehrten zurück.

      Als sie das erst vor einigen Wochen fertiggestellte Camp Marmal in der Nähe der Stadt Masar-e-Scharif erreichten, standen Soldaten unterschiedlichster Herkunft Spalier und salutierten, als sie ihre toten Kameraden aus den Hubschraubern holten. Abel und Seifert, verdreckt und blutverschmiert, gingen mit leerem Blick durch die Reihe der Kameraden, ohne etwas zu empfinden.

      Auch die respektvollen Blicke registrierten sie nicht.

      Einen Mann bemerkten sie dennoch.

      Er stand am Ende der Reihe, trug eine wilde Kombination aus Uniform und einheimischer Kleidung und blickte sie aus hellblauen Augen mit unbewegter Miene an. Als sie ihn erreichten, nickte er ihnen wortlos zu. Beide erwiderten den stummen Gruß, ohne zu wissen, warum.

      Später, am frühen Abend, Abel und Seifert saßen zusammen in ihrer Unterkunft und tranken schweigend ein Bier, betrat ein Mann ihr Zelt. Beide hoben den Blick und erkannten in ihm den Soldaten, der ihnen Stunden zuvor am Ende des Spaliers zugenickt hatte.

      »Eine Schande, was mit euren Kameraden passiert ist«, sagte er und zündete sich eine Zigarette an.

      »Ja«, sagte Abel und deutete mit dem Kinn in Richtung Kühlschrank. »Bier ist da drin.«

      Der Mann holte sich eine Dose Bier aus dem Kühlschrank, öffnete sie und nahm einen Schluck.

      »Aber wisst ihr, was das Schlimmste ist? Niemand wird für den Tod eurer Kameraden die Verantwortung übernehmen. Keiner wird sich vor ihre Särge stellen und sagen: Wir haben einen Fehler gemacht. Einen schrecklichen Fehler.« Der Mann setzte sich auf einen der Stühle und schüttelte den Kopf. »Und weil das niemand tun wird, niemals getan hat, wird sich auch nichts ändern. Wir werden weiterhin fehlerhafte oder unvollständige Informationen erhalten und dabei zusehen, wie unsere Kameraden ins Gras beißen.«

      Abel brummte ungehalten. »Offiziell sind wir ja auch nur hier, um Schulen zu bauen.«

      Seifert nickte zustimmend. »Oder Brunnen zu graben.«

      Der Mann lachte. »Ja, dafür wurden wir ausgebildet, oder? Um Löcher zu graben.« Er sah die beiden forschend an. Dann beugte er sich vor. »Es gibt nur eine einzige Wahrheit. Wollt ihr sie hören?«

      Beide nickten.

      »Hier zu sein hat nur einen wirklichen Grund: So viele von den Scheißkerlen zu töten, wie nur irgend möglich. Denn jeder Turbanträger, den wir ins Jenseits befördern, kann keinen Schaden mehr anrichten. Ich baue hier weder Schulen, noch buddle ich Löcher in den beschissenen Wüstensand. Und schon gar nicht bilde ich afghanische Sicherheitskräfte aus. Wozu? Damit genau dieser Typ mich in einem Jahr mit den Methoden, die ich ihm beigebracht habe, abknallt? Nein, Freunde, deshalb bin ich nicht hier.«

      Abel sah den Mann an. »Sie sind Major Castrop, richtig?«

      Der Mann grinste schwach. »Major? Ich trage keine Rangzeichen. Aber der Name stimmt, ja.«

      »Was wollen Sie von uns, Castrop?«, wollte Seifert wissen.

      »Es gibt für euch jetzt drei Optionen. Ihr könnt nach Hause fliegen und versuchen, den ganzen Scheiß hier hinter euch zu lassen. Oder ihr bleibt und macht weiter wie bislang.«

      »Oder?«

      »Oder ihr schließt euch meiner Truppe an und befördert so viele Taliban wie möglich ins Jenseits.«

      12

      »Dann holen wir uns unsere Heimat zurück.«

      Gunnar Abel

      Castrop nahm Abel und Seifert mit in sein eigenes Lager, ein in sich abgeschlossener Trakt im Camp Marmal, und stellte sie den anderen Mitgliedern seiner Einheit vor. Achtzehn Männer, die in ähnlichen Klamotten steckten wie ihr Anführer. Sie trugen lange, zottelige Bärte und die Haare entsprachen weder in Länge noch im Stil den Vorschriften. Niemand stellte Fragen, man nahm sie auf, als wäre es das Normalste der Welt. Alle wussten, dass sie beim letzten Einsatz Kameraden verloren hatten. Was aber viel wichtiger war, sie hatten gegen eine viermal stärkere Taliban-Einheit gekämpft und gewonnen. Das war, was zählte. Sie hatten ihre Feuerprobe mit Bravour bestanden, dafür aber einen hohen Preis bezahlen müssen. Auch das vergaß niemand.

      Sie hoben die Bierdosen.

      »Auf die Gefallenen!«, rief Castrop.

      »Auf die Lebenden!«, antworteten seine Männer mit einer Stimme.

      Was folgte, waren Einsätze, von denen Abel und Seifert nicht einmal zu träumen gewagt hatten.

      Castrop verfügte über ein weitverzweigtes Netzwerk von Kontaktpersonen aus unterschiedlichsten Regionen und Schichten, die ihn regelmäßig mit Informationen versorgten.

      Sie hatten nur eine einzige Mission: Taliban töten.

      Je hochrangiger, desto besser.

      »Jeder Taliban, den wir töten, kann nicht mehr nach Europa oder in die USA reisen, um dort Zivilisten umzubringen«, hatte Castrop erklärt.

      Es war ganz simpel.

      Bekamen sie einen Tipp, rückten sie aus, beobachteten und schlugen dann zu.

      Hart, kompromisslos und unerbittlich.

      Normalerweise war die Dienstzeit in Afghanistan auf sechs, maximal neun Monate begrenzt.

      Danach musste man zurück nach Deutschland. Erst nach einer angemessenen Auszeit konnte man erneut in den Einsatz zurück.

      Aber auch diese Regeln galten nicht für Castrop.

      Irgendjemand erzählte Abel und Seifert einmal, dass der Major schon seit drei Jahren in Afghanistan wäre.

      Ununterbrochen.

      Wahnsinn.

      Diese Tatsache hatte natürlich auch Auswirkungen auf Abel und Seifert.

      Sie verloren ihr Zeitgefühl, dachten nur noch von Einsatz zu Einsatz.

      Die Einheit wurde zu ihrer neuen Familie. Der Kontakt zur alten kam zum Erliegen.

      Ungebunden waren sie ohnehin.

      Es kam der Zeitpunkt, da interessierten sie sich nicht einmal dafür, was zu Hause in Deutschland vor sich ging. Es war, als wären sie schon immer hier gewesen, niemals dort.

      Und noch etwas geschah mit ihnen: Sie verloren ihren moralischen Kompass, stumpften emotional ab.

      Stürmten sie ein Gebäude und begegneten jemandem mit einer Waffe, eröffneten sie sofort das Feuer. Und sie schossen nur, um zu töten.

      Egal, ob Greis, Frau oder Kind.

      Es gab keine guten Taliban. Oder ungefährliche. Oder unschuldige.

      Nicht, solange sie lebten.