Entfesselt laufen. Jay Dicharry. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jay Dicharry
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783868675252
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uns erstmal einen Schritt zurücktreten und uns anschauen, wie unser Körper überhaupt Bewegungsabläufe erlernt. Vielleicht werden Sie dabei bemerken, dass Ihre eigenen, gelernten Bewegungen das eigentliche Problem dabei sind, beim Laufen in Bestform zu kommen. Für optimale Ergebnisse müssen wir qualitativ hochwertige Bewegungsabläufe lernen, aber Ihre Bewegungsqualität ist immer nur so gut, wie Ihr Körper es Ihnen erlaubt.

      Fallbeispiel: Unser Freund Tom möchte sein Gangbild bereinigen. Aber sein Körper ist nicht perfekt auf das Laufen vorbereitet. Und sein Lebensstil bei der Arbeit hilft auch nicht gerade. Er sitzt mehr Stunden am Stück in Flugzeugen, als andere Leute nachts schlafen, und danach sitzt er noch ein bisschen mehr, denn er hat ständig Meetings. Sitzen kann die Haltung verschlechtern, indem es die Rumpf- und Hüftmuskeln hemmt bzw. „ausstöpselt“. Tom hat auch noch eine alte Verletzung, die sein rechtes Fußgelenk steif macht. Durch die Spannung in seinen Hüften kann er sich nicht richtig abstoßen. So schafft er es nicht, seine Beine weiter vor den Körper zu schwingen und weniger hinter sich her zu schleifen. Dieses veränderte Schrittbild stellt eine Überbelastung der Muskeln dar, die sich rund um sein Knie herum befinden, was dazu führt, dass er sein Bein nicht vollständig strecken kann. Und das bedeutet wiederum, dass das Laufen für den ganzen Körper viel belastender wird. Die Steifheit in seinem rechten Fußgelenk lässt ihn außerdem bei jedem einzelnen Schritt auf der Außenseite des Fußgelenks laufen, wodurch noch mehr Ungleichmäßigkeit entsteht, während er sein Bein vorwärts schwingt.

      Tom will seine Kontrolle beim Laufen verbessern. Aber durch die vielen negativen Einflüsse hat sein Körper sich ganz auf Plan B eingestellt. Tom hat sich an das Problem angepasst, indem er sich sein eigenes, adaptiertes Gangbild zusammengeschustert hat. Und damit ist Tom nicht allein. Die Evolution hat uns darauf programmiert, die für uns energiesparendste Art und Weise zu gehen und zu laufen auszuknobeln. Tom hat seine Mankos kompensiert und seinen Gangreflex so angepasst, dass er innerhalb der derzeitigen Einschränkungen seines Körpers so effizient wie irgend möglich wird. Wenn wir etwas kontinuierlich üben, wird unser Körper immer besser darin und so schleifte sich bei Tom mit jedem Lauf dieses kompensierte Gangbild ein, das sich an sein steifes Fußgelenk und seine gehemmte Hüfte anzupassen versucht.

      Und dann bat Tom eines Tages einen Freund im Fitnessstudio um Rat. Er bekam alle möglichen Ratschläge, um seine Bewegungsabläufe zu verbessern, und nach ein paar Monaten waren die Bewegungen seiner Hüfte und seines Fußgelenks tatsächlich um Einiges besser geworden. Aber Toms Laufform änderte sich überhaupt nicht. Warum? Sie können Ihre Mobilität verbessern, aber Ihr Körper muss auch wissen, wie er damit umgehen soll. Es braucht Übung, um diese neuen Bewegungen in die Programmierung Ihres Gehirns zu übernehmen. Wenn Sie das erreichen wollen, müssen Sie die Art, wie Sie sich bewegen, neu „verkabeln“.

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      ABBILDUNG 2.1 Übung führt zu Plastizität

      Bewegungsblockaden zwingen Sie dazu, sich anders zu bewegen. Sobald eine Blockade einmal aufgehoben ist, müssen Sie die Fähigkeitenkontrolle über die neuen Bewegungen üben, um eine Verbesserung beim Laufen zu spüren.

      REFLEXARTIGE BEWEGUNGEN NEU „VERKABELN“

      Kratzen Sie sich einmal an der Nase. Es ist ganz leicht, tun Sie es einfach. Was ist passiert? Sie haben einen Befehl gelesen. Ihr Gehirn war einverstanden. Es hat eine Nachricht an die Muskeln in Ihrem Arm gesendet, um die Hand zu heben, sie an Ihr Gesicht zu führen, die genaue Lokalisierung Ihrer Nase im Gesicht zu finden und mit den Fingern zu wackeln, um so eine Bewegung zu erzeugen und zu kratzen. Klingt wie eine Menge einzelner Schritte, nur um sich an der Nase zu kratzen, oder? Dies alles wird durch einen Vorgang gesteuert, den man freiwillige Bewegung nennt. Sie haben sich bewusst dazu entschieden, sich zu bewegen und Ihr Gehirn hat die Aufgabe erledigt.

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      ABBILDUNG 2.2 Unterbewusstes Laufen

      Die Anleitung für Ihr Gangbild kommen von den zentralen Mustergeneratoren, die genau unterhalb Ihres Gehirns liegen.

      Und jetzt stehen Sie einmal auf, gehen ans andere Ende des Zimmers und wieder zurück. Wiederum hat sich Ihr Gehirn dazu entschlossen, dass es das wohl hinbekommt. Sie sind aufgestanden und losgegangen. Aber danach sind die Dinge ein wenig anders abgelaufen. Bei jedem Schritt haben Sie Ihre Hüfte gebeugt, das Knie gestreckt, den Unterschenkel nach vorne geschwungen, einen Fuß auf dem Boden abgesetzt, das Fußgelenk bewegt und die Wade angespannt, um den Körper vorwärts zu bewegen, und dann haben Sie das Ganze wiederholt. Das ist alles passiert, ohne dass Sie lange darüber nachdenken mussten. Unser Gang ist kein freiwilliger Ablauf, sondern eher reflexartig.

      Reflexartige Bewegungen laufen ohne bewusstes Nachdenken ab. Um genau zu sein werden die Signale, die in Ihrem Körper herumhüpfen und ihm sagen, ob er kriechen, gehen oder rennen soll, von einem speziellen Programm ausgeführt, das man zentrale Mustergeneratoren oder ZMG nennt. Das Wichtigste, was Sie hierzu wissen müssen, ist, dass sich diese ZMG unterhalb des Gehirns im Rückenmark befinden. Das ist der Grund, warum Sie zum Laufen Ihr Gehirn nicht anstrengen und sich konzentrieren müssen. Bewusste Gedanken entstehen in Ihrem Gehirn, deshalb sage ich gerne, dass wir mit dem Unterbewusstsein laufen. Jeder Schritt, den Sie machen, verstärkt Ihr Gangbild, egal ob es das beste für Sie ist oder nicht. Manchmal führen angehäufte Beschwerden und Schmerzen, die Sie sich während Ihrer Laufkarriere angeeignet haben, zu einem Humpeln, das andere an Ihnen bemerken, aber Sie selbst nicht. Für Sie ist es ganz normal geworden. Die ZMG lernen aus all den Übungseinheiten, die Sie für sich wiederholende Bewegungen wie dem Gehen ausführen, und durch Übung entstehen neue Verbindungen. Klar, Sie können diesen Reflex unterdrücken. Wenn Sie wollen können Sie sich mit dem linken Bein stärker abstoßen als mit dem rechten. Aber dafür müssen Sie dann doch Ihr Gehirn anstrengen, denn Sie würden dadurch Ihr normales Reflexmuster für Ihr Gangbild modifizieren, das die ZMG in Ihrem Rückenmark senden.

      Deshalb kann es manchmal so schwierig sein, unsere Laufform zu ändern. Die perfekte Form zu erreichen, wenn Ihr Körper darauf gar nicht ausgelegt ist, bedeutet, gegen Ihre eigenen Körperbewegungen zu kämpfen. Falls Sie je versucht haben, Ihren Laufrhythmus zu ändern, wissen Sie das selbst am besten. Wenn Sie seit acht Jahren 162 Schritte pro Minute laufen und dann auf einmal 180 Schritte hinbekommen wollen, muss sich Ihr Gehirn ganz schön anstrengen. Diesen Übergang können Sie nicht von einem Tag auf den anderen machen. Dasselbe gilt für die Haltung. Wie soll eine Läuferin die richtige Haltung bei einem Halbmarathon beibehalten, wenn sie keine Ahnung hat, wie sie eine neutrale Wirbelsäulenposition im Stehen hinbekommen soll?

      Trotzdem gibt es noch haufenweise Lauftrainer, die den Leuten erzählen, dass sie den Bodenkontakt verringern sollen, um schneller zu laufen. Dieser Ratschlag stammt aus einem Experiment, das mit einer Gruppe der besten Läufer der Ver-einigten Staaten durchgeführt wurde. Ihnen wurde gesagt, sie sollen ihren Kontakt mit dem Boden bei allen Laufeinheiten verringern. Aber dazu mussten Sie komplett umorganisieren, wie stark Sie sich bei jedem einzelnen Schritt in den Boden stemmten. Sogar diese elitären Körper hatten keine Ahnung, wie sie das anstellen sollten und zwangen sich zu riesigen Veränderungen in Muskelrekrutierung und Intensität. Es war eine komplette Katastrophe, die bei jedem einzelnen Läufer zu Verletzungen führte. Den Bodenkontakt zu verringern, kann Sie schneller machen, aber Ihr Körper muss üben, wie er das richtig machen soll, bevor Sie erwarten können, dass die Veränderung übernommen wird und sich in Ihrem Gangbild spiegelt. Sie können Ihre Laufform verändern, aber gute Form ist nichts, das Sie an einem Tag durch eine Art Schlüsselerlebnis hinbekommen. Ihr Körper muss eine Datenbank mit dem richtigen Muskelgedächtnis aufbauen. Sobald Ihr Körper das einmal richtig hinbekommen hat, ist es einfach, den Ablauf zu wiederholen. Es ist wirklich wie beim Fahrradfahren.

      Neurale Plastizität

      Vor ein paar Jahren erlitt ich eine schwere Kopfverletzung und lag eine Zeitlang im Koma. Durch die Schwellung wurden einige Teile meines Gehirns, die normalerweise oben im Schädel liegen, nach unten verschoben, und mein Rückenmark wurde zusammengedrückt. Als ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, konnte ich nicht in einer geraden Linie den Bürgersteig hinunterlaufen. Die Verletzung meines Gehirns und meines Rückenmark machten es mir