Matrix-Liebe. Traian Suttles. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Traian Suttles
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783947612765
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die Macht, Neos virtuellen Körper zu „attackieren“, soll heißen zu transformieren und das Einsetzen der biomorphen Wanze vorzubereiten. Letztgenannte Prozedur ist für Neo so schmerzhaft, dass er das Bewusstsein verliert und erst zuhause im Bett wieder aufwacht. Aber mit dieser Zusammenfassung ist immer noch nicht der gesamte Ablauf erklärt, denn die Agenten müssten hierzu noch viel mehr anstellen: es scheint ja so, als könnten sie auch Neos Träume kontrollieren und aus den schrecklichen Erlebnissen im Verhörzimmer einen Alptraum machen, aus dem Neo punktgenau aufwachen soll. Diese nachträgliche, mentale Manipulation wäre natürlich nötig, damit Neos Realitätsbild nicht ins Wanken gerät – ebenso wie alle anderen Matrizianer darf er nicht an der Realität der Matrixwelt zweifeln. Doch geht die Macht der Agenten (oder des Architekten) wirklich so weit? Es ist grundsätzlich eine interessante Frage, welche Freiheitsgrade die Menschen in der Matrix besitzen. In gewisser Hinsicht können sie tun und lassen, was sie wollen, solange nur das Illusionäre ihrer Umgebung unerkannt bleibt beziehungsweise sie ein solches zerstörerisches Wissen nicht publik zu machen drohen. Es dürfte sogar so sein, dass die Gefühle, Gedanken und Träume der Matrizianer keinen beliebigen Eingriffen des Architekten ausgesetzt sind: entweder, weil genau diese genuin „menschlichen“ Matrizianer-Eigenschaften den Maschinen nicht verständlich und deshalb nicht vollständig kontrollierbar sind, oder, da jeder derartig direkt ansetzende Kontrollversuch zu riskant wäre. Wie man später erfährt, besteht hierin ja der Grund, warum die Matrixwelt stets in einem latenten Zustand der Gefährdung schwebt: das menschliche Gefühlsleben bleibt weitgehend autonom, aus diesem können Zweifel an der Realität der Matrix erwachsen, und im Zuge einer verhängnisvollen Kettenreaktion kann letztendlich das gesamte Konstrukt einstürzen – in Reloaded wird der Architekt davon berichten, dass die Matrix schon mehrfach auf diese Weise scheiterte. Wenn dies also stimmt, ist das Unterbewusstsein, und damit auch die Welt der Träume, dem Architekten nur schwer oder gar nicht zugänglich – und genau deshalb müssen wir plötzlich daran zweifeln, ob Neo wirklich aus einem „von außen“ eingegebenen Alptraum erwachte. Die Frage stellt sich aufs Neue: hat er die Schrecken des Verhörzimmers wirklich erlebt (also „wirklich“ im Sinne der Matrixrealität, denn eine andere kennt er noch nicht), und konnten ihm diese Erlebnisse gezielt als nachträgliches Traummaterial verabreicht werden, um ihn zu verwirren und zu täuschen?

      Wahrscheinlicher mutet bei erneutem Nachdenken an, dass es eben nicht so war. Man muss hier zunächst daran erinnern, dass die Agenten keineswegs ahnen, wen sie im Verhörraum vor sich haben – für sie ist Neo nicht »der Auserwählte«, sondern ein aussichtsreicher Lockvogel, der ihnen Morpheus’ Festnahme ermöglichen soll. Wie Morpheus kurz darauf am Telefon sagt, wäre Neo wahrscheinlich tot, wenn die Agenten um seine wahre Bedeutung für die Rebellion gewusst hätten. Ihnen geht es nur um Morpheus, genauer gesagt um den Code des Zentralrechners der letzten menschlichen Zufluchtsstätte. Von Neo wollen sie folglich eine Aussage, ob er bereit ist, ihnen bei der Jagd auf Morpheus zu helfen. In dem Augenblick, als Neo seine Kooperation unmissverständlich verweigert (übrigens auch dies ein klarer Ausdruck seiner Willens- und Gedankenfreiheit, die eben nicht einfach von den KIs ferngesteuert werden kann!), wollen Smith und seine Leute sicherlich keine Sekunde mehr mit ihm verschwenden. Deshalb wird in Wahrheit folgendes passiert sein: als Neo das Angebot von Smith mit betonter Verachtung zurückweist und ein sofortiges Gespräch mit einem Anwalt verlangt, infiziert einer der beiden hinter ihm stehenden Agenten seinen Körper (theoretisch auch ein vierter Agent, der vorher nicht im Zimmer anwesend war, oder sogar Smith selbst). Der Zuschauer lernt später, dass die Agentenprogramme sich tatsächlich auf diese Weise von einem Matrizianer-Wirtskörper zum anderen bewegen: Neo wäre in diesem Augenblick schlicht verschwunden, ein Agent hätte seinen Platz auf dem Stuhl eingenommen. Dieser Agent nun, der die Infektion ausgeführt und auf diese Weise das Verhör beendet hat, begibt sich zu Neos Wohnung, wo er sich in Ruhe nach weiterführenden Hinweisen auf Morpheus umsehen kann. Dann legt er sich in Neos Bett und verlässt den Wirtskörper wieder, so dass ein schlafender Neo zurückbleibt. In diesem speziellen Fall aber war der Infektionsvorgang mit der Einbringung eines Überwachungsprogrammes verbunden, das sich von nun an als biomorphe Wanze in Neos virtuellem Leib befindet. Aus den Bildern, die der Film uns später liefert, wird deutlich, dass ein Infektionsvorgang durch einen Agenten einen kurzen Moment intensiven Schreckens für den Wirt bedeutet. Genau so empfindet es folglich auch Neo, als er im Verhörzimmer plötzlich infiziert wird. Seine Erinnerung muss an diesem Punkt abbrechen, und die Agenten nehmen es in Kauf, dass er später in seinem Bett aufwachen und sich über den „Filmriss“ wundern wird. Eine ernsthafte Gefährdung seiner Realitätswahrnehmung dürfte dies nicht bedeuten – immerhin hat Neo einen völlig verrückten Tag hinter sich, an dem er morgens beinahe den Metacortex-Tower hinabgestürzt wäre und anschließend von Bundesagenten verhaftet wurde. Dass dieser Stress in einer Art Nervenkollaps endete, so dass irgendein nicht mehr memorierbares Szenario aus Streit, Zusammenbruch, Beruhigungsspritze und Krankentransport ihn schließlich ins heimische Bett zurückführte, wäre keine ganz fern liegende Erklärung für seine Erinnerungslücke.

      Dies aber bedeutet: der body horror zum Schluss der Verhörzimmerszene war doch nur ein Traum; Neo hat das Einsetzen der Wanze in dieser Form nicht erlebt. Vielmehr spürt sein Unterbewusstes seinen veränderten Zustand, nachdem der Infektor ihn verlassen und das Überwachungsprogramm zurückgelassen hat. Die plötzliche, temporäre Infektion durch den Agenten und das dauerhaft eingebrachte Wanzenprogramm werden als Gefährdung beziehungsweise als Fremdkörper wahrgenommen: Neos Gehirn reagiert darauf mit Alpträumen, während er im Bett liegt und schläft. Folglich ist der Traum, aus dem er schließlich erwacht, ein Zufallsprodukt in Form einer autonomen Reaktion seiner Psyche, und keine direkte Kontrolleinwirkung der Matrix. Im Rahmen dieser autonomen psychischen Reaktion wird der eingebrachte Fremdkörper von Neos Unterbewusstsein „abgescannt“; er wird in einer Art und Weise verbildlicht, die mehr oder minder dem entspricht, was er später bei der von Trinity vorgenommenen „Entwanzung“ zu sehen bekommt.

      21 Kurz darauf wird Neos Pass eingeblendet, auf dem man das Geburtsdatum 13. September 1971 erkennen kann – gemessen an den Anrufdaten der Eingangsszene stünde er also im sechsundzwanzigsten Lebensjahr (siehe aber auch Haupttext). Für Aufregung sorgte einige Jahre nach Erscheinen von The Matrix das Ablaufdatum, welches das Dokument zeigt, nämlich der 11. September 2001. Unausbleiblicherweise werden seitdem die Zahlenbilder des Films nach „Hinweisen“ durchforstet, welche man z.B. in den Anrufdaten vom Anfang und Ende der Handlung zu finden glaubt (2/9/98 ergibt 119, 9/18/99 ergibt 126, woraus man die Quersummen 11 und 9 bilden kann).

      22 In diesem Fall würde Morpheus zwar für das große Selbstvertrauen Neos gesorgt, ihn aber auch getäuscht haben, da er im Gegensatz zu Neo ja wüsste, dass dieser niemals einen Gerichtsprozess gewinnen (oder überleben) würde, in dem es gegen die Belange des Kontrollsystems geht. Die Täuschung wäre insofern verzeihlich, da Neo ohnehin bald aus der Matrix entkoppelt werden soll.

      23 Lloyd (2003, S.114) spricht von einem bugbot und stellt die Frage, warum dieser so groß ist, wenn es nur um Abhören und Tracking geht. Er vermutet eine äußerst gefährliche Einrichtung: sie könnte Sprengstoff erhalten, der Morpheus töten soll. Letzteres wäre aber zu bezweifeln, da die Agenten Morpheus suchen, um von ihm die Zugangscodes für den Zentralrechner von Zion zu erhalten.

      24 Eine in der romantischen Literatur beliebte Erzählstrategie – es ist wohl nicht falsch festzustellen, dass von den Matrix-Filmen trotz Science Fiction-Sujet jede Menge Schwarze Romantik ausgeht. Brin (2003, S.165f.) stellt diese sogar als dominant dar, allerdings nur in Kenntnis des ersten Teils (vgl. Kapitel »Neos Vision und Re-Vision« weiter unten).

       Entkommen und Entwanzung

      Neo beeilt sich, Morpheus’ telefonische Anweisungen zu befolgen, und wartet im nächtlichen Regen unter der Adams Street Bridge. Bildästhetisch sehr ansprechend sind die Wasserströme, die auf breiter Front von der Brücke herabrinnen; sie erinnern – durch die grünliche Beleuchtung – an die vertikalen Zeichenströme vor dunklem Monitorhintergrund, mit denen der Matrixcode visualisiert wird.25 Neo steht den in parallelen Bahnen niedergehenden Überlaufmengen gegenüber und ahnt nichts von der Tatsache, dass sein ganzes bisheriges Leben auf dem Gaukelspiel gigantischer,