Matrix-Liebe. Traian Suttles. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Traian Suttles
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783947612765
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mit ansehen mussten. Ihre „Wirklichkeit“ scheint also die der Zuschauer zu sein, während Trinity und der Agent die Regeln der Alltagsrealität brechen können.

      Das Ende der Verfolgungsjagd setzt allen gezeigten Unmöglichkeiten die Krone auf, denn Trinity flüchtet in eine anrufbare Telefonzelle, in der es gerade klingelt. Agent Smith – unübersehbar der Chef jener drei Agenten, die kurz nach der Polizei am Heart o’ the City-Hotel eintrafen – überrollt dieses „nutzlose“ Versteck mit einem Truck, doch Trinity, die zuvor noch den Hörer abnehmen und ans Ohr halten konnte, ist verschwunden. All diese Abläufe wird der ahnungslose Zuschauer erst einordnen können, sobald er im weiteren Handlungsverlauf über die Trennung von Matrixwelt und Realität dazulernt. Im Falle der Telefone bedeutet dies: Die Rebellen bevorzugen solche in lost places, wie z.B. in alten Hotels oder in einem aufgegebenen Laden für Fernsehreparaturen. Ob es wirklich vergessene, nicht abgemeldete Anschlüsse sind, wird nicht gesagt, wahrscheinlicher ist wohl, dass zumindest einige der genutzten Apparate nachträglich an diesen vor Beobachtung gut geschützten Orten installiert wurden. Im Katz und Maus-Spiel mit den Agenten sind solche „besonderen“ Leitungen, die z.B. durch die Sendefelder von Handys nicht ersetzbar sind, der größte Trumpf der Rebellen (zur genaueren Ausdeutung Festnetz versus Handy siehe das Kapitel Zwischenbetrachtung I weiter unten). Allerdings nutzen sie auch weniger verborgene Anschlüsse, wie eben öffentliche Telefonzellen – so wie Trinity am Ende der ersten Verfolgungssequenz des Filmes. Warum Trinity aufgespürt wurde und fliehen musste, wird erst später klar: Es war ihr eigener Mitkämpfer Cypher, der sie an die Agenten verriet, um sich bei diesen für weitere Aufgaben zu empfehlen.

      5 Die eigentlich namensgebenden bullet time-Szenen, also solche, in denen sich in abgefeuerter Munition das verlangsamte Zeitmoment manifestiert, kommen später. Genial fortgesetzt wird das Motiv, wenn in der letzten von ihnen – nämlich bei Neos Transformation – die Bewegungen der durch den Matrixraum ziehenden Kugeln gänzlich zum Stillstand kommen.

      6 Um genau zu sein, ist nicht die kreisende Kamera neu zu nennen, sondern ihr hohes Tempo – man vergleiche die gemächlich ihre Bahn ziehende Vorgängerin in der Kuss-Szene aus Vertigo (1958). Zu Beginn von The Matrix finden sich mehrere Verweise auf diesen (spät etablierten!) Kritikerliebling; es ist, als ob sich zwei Jahrhundertfilme die Hand reichen würden.

      7 Ein im anderen Sinne vom Verhaltensforscher Adriaan Kortlandt (1918-2009) eingeführter Begriff.

      8 Wobei man der 303 noch andere Bedeutungen hinzufügen kann, etwa die in der Eingangsszene stattfindende Kommunikation von Trinity=3 mit Cypher=0 (Yeffeth 2003, S.243). Wie später klar wird, handelte es sich um ein Gespräch zwischen Gut und Böse, zwischen einem „Engel“ und einem „Teufel“.

       Zimmer 101: Neos Mansarde

      Nach Trinitys gelungener Flucht zoomt die Kamera in einen Telefonhörer hinein und gleich im Anschluss aus einem Monitor heraus: es ist ein Computer in Neos Mansardenwohnung. Der Bildschirm ist eingeschaltet; über ihn scrollen Nachrichtenseiten in verschiedenen Sprachen. Berichtet wird von der Jagd auf einen gewissen Morpheus, der auch auf einem Foto zu sehen ist: ein kahlköpfiger, bullig wirkender Mann mit Sonnenbrille.

      Wieder hat man es mit subtilen Anspielungen zu tun, die erst dann verständlich werden, wenn man den ganzen Film (beziehungsweise die Trilogie) kennt. Das Telefonat zwischen Trinity und Cypher verband Matrix und reale Welt (= das Operatordeck der Nebukadnezar). Später ermöglichte eine solche Festnetzleitung (= die Telefonzelle) Trinitys Flucht aus der Matrix. Die Leitung aus dem Hotel konnte Trinity hierfür nicht mehr benutzen, da diese von den Agenten schon durchtrennt worden war. Nur funktionale Festnetzleitungen bieten also einen Fluchtweg aus dem Matrix-Gefängnis. Da der oben genannte in-zoom in einen zerstörten Telefonhörer ging, kann der out-zoom nicht in die Realität führen. Folglich befinden wir uns beim out-zoom in Neos Zimmer hinein immer noch in der Matrix-Virtualität.

      Wir sind aber bei einem ganz besonderen Matrizianer gelandet. Der out-zoom aus Neos Computerbildschirm erfolgte durch das Wort »search« hindurch, genauer gesagt durch die Schleife des Buchstabens »a«. Man kann dies als das Gegenstück zum zoom durch die Null verstehen, mit dem wir die illusionäre Matrixwelt gleichsam das erste Mal betraten. 0 und a sind wie Omega und Alpha. Von einem „Ende“ aus also wird ein neuer „Anfang“ gesucht. Darauf hatten uns, wie im obigen »Anruf aus der Matrix«-Kapitel beschrieben, auch schon die Zahlen 5 und 6 hingewiesen: Neo wird prüfend beobachtet, er soll der neue »Auserwählte« sein, der die Menschen aus ihrer Gefangenschaft im Matrix-System hinausführen könnte. Dummerweise wird er nicht nur von Personen gesucht, die auf ihn hoffen, sondern mittlerweile auch von den Agenten des Systems. Hier aber gibt es einen folgenreichen Unterschied: für Morpheus und seine Leute ist Neo der potenzielle Erlöser, für die Agenten hingegen ist er momentan nur eine von mehreren »Zielpersonen«. Die Agenten des Systems haben noch nicht verstanden, wie gefährlich Neo ihnen werden könnte, und im weiteren Verlauf der Trilogie lernt man sogar, dass sie von regelmäßig wiederkehrenden Matrix-Erlösern nichts wissen: diese brisante Information ist höchst wenigen Eingeweihten vorbehalten.

      Tatsächlich wirkt Neo nicht gerade furchteinflößend. Er ist ein ganz normaler, junger Mann von unauffälligem Äußeren, der offenbar kein Bestreben verspürt, seinem angenehmen Erscheinungsbild durch Maßnahmen wie Tattoos oder Piercings eine „besondere“ Note zu verleihen. Ihn scheint weniger sein Körper (im Sinne des rein Äußerlichen) zu beschäftigen als vielmehr seine Existenz. Seeßlen (2003) breitet diese Sichtweise in beinahe obsessiver Manier aus: die des jungen Mannes, der noch nicht in der „Welt“ angekommen ist, weil er gute Gründe besitzt, das Ankommen zu verweigern.

      Der sechsundzwanzig Jahre alte Neo (zur Altersangabe siehe Kapitel »Verhör und Verwanzung«) arbeitet als Programmierer in einer Softwarefirma, bürgerlich heißt er Thomas A. Anderson. Seine eigentliche, in Nächten und an Feiertagen gelebte Berufung jedoch ist die eines Hackers – „Neo“ ist sein Hackername. Unter diesem Alias geht er den Fragen nach, die ihn beschäftigen, genauer gesagt seit langem schon bedrängen: seinem „Unbehagen in der Kultur“ des späten 20. Jahrhunderts. Er ist im Berufsleben unglücklich und spürt, dass nicht nur in seinem Dasein, sondern in der gesamten Umwelt, wie sie ihn bisher geprägt hat oder zu prägen versuchte, etwas nicht stimmt. Dass er auf einem meisterlichen Hackerlevel steht, kann man daran ersehen, dass er bereits einige hochinteressante Hinweise aufgespürt hat. Doch seine Attitüde ist alles andere als selbstverliebt; ganz im Gegenteil spürt er nagende Unzufriedenheit mit sich und seinem bisherigen Kenntnisstand, so dass er seine Wahrheitssuche mit unverminderter Intensität vorantreibt.

      Als Folge dieser Anstrengungen ist Neo, musikhörend vor seiner Bildschirmfront sitzend, eingeschlafen (und bemerkt jenen »Morpheus« auf den Nachrichtenseiten nicht, dessen Name passenderweise dem Ovidschen Gott des Schlafes und der Träume entspricht). Auf seinem Kopfhörer läuft »Dissolved Girl« von Massive Attack:9 wenn man so will, ein Verweis auf die im Cyberraum (wie auch in Neos Sehnsüchten?) verteilte Trinity, die sich soeben anschickt, auf Neos Rechner „auszukristallisieren“ – und ihm etwas später, beim Aufeinandertreffen im Underground-Club, erstmals von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen wird (sofern man dies bei virtuellen Körpern sagen darf).

      Neos Hauptbildschirm, über den die Nachrichtenseiten flimmerten, wird plötzlich schwarz. Sein Unterbewusstsein scheint auf diese Änderung in seinem Zimmer sofort zu reagieren, wie auf ein ungewohntes Geräusch – er blinzelt und erwacht. Passend dazu liest er die Worte »Wake up, Neo…« auf dem Monitor, gefolgt von »The Matrix has you…«. Wie sich später zeigen wird, ist Neo das Reizwort »Matrix« nicht unbekannt; es ist zu einem geheimnisumwitterten Schlüsselbegriff seiner nächtlichen Cyberraumreisen geworden.10 Wohl deshalb muss die ganze Szene etwas höchst Irreales für ihn haben, und der nächste Satz liest sich vollends kryptisch: »Follow the white rabbit…«. Instinktiv bedient der soeben Erwachte die Tastatur und versucht die Kontrolle über seinen Rechner zurückzuerlangen, doch dann koinzidiert die vierte auf dem Schirm erscheinende Botschaft »Knock, knock, Neo« mit einem Klopfen an seiner Zimmertür. Ein kurzer Blick Neos