Matrix-Liebe. Traian Suttles. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Traian Suttles
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783947612765
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Schlüsselbegriff auf direkte oder indirekte Weise mit jenem geheimnisvollen Morpheus zu tun haben muss, der auf den Nachrichtenseiten auf Neos Bildschirm zu sehen war. Morpheus, so lernen wir später im Verhörraum von Agent Smith, wird als Terrorist gesucht, ja, er gilt als »der gefährlichste Mensch der Welt«. Neo hingegen bewegt sich bei seinen Hackeraktivitäten in einem geistigen Umfeld, das diese offizielle beziehungsweise staatliche Sicht der Dinge anzweifelt. Abgesehen von der Lust an Verschwörungstheorien, die man jedem Zweifler an gewissen Mehrheitsmeinungen schnell anhängen kann, sind hierfür wahrscheinlich aufmerksame Zeugen verantwortlich, die anderes beobachtet haben als das, was später in Polizeiberichten und Medien erschien. Wo Morpheus auftaucht, da verschwinden Menschen (sehr junge vor allem!) und werden Angehörige der Staatsgewalt angegriffen und getötet14 – so weit wirkt es verständlich, dass ihm der Ruf eines Schwerverbrechers vorauseilt. Aber gleichzeitig ist Morpheus auch ein Hacker, und als solcher ist er in der Lage, anderen Hackern über geschützte Kommunikationswege seine Sicht der Dinge mitzuteilen: etwa, dass die verschwundenen Kinder und Jugendlichen keineswegs von ihm umgebracht wurden, sondern dass sie noch am Leben sind – und zwar nur deshalb, weil er derjenige war, der sie vor Liquidierung Seitens der Staatsgewalt bewahrte. Dieser aberwitzige Perspektivenwechsel darf im „freien“, öffentlichen Diskurs nicht auftauchen; in den Chaträumen der Hacker hingegen werden unabhängige Beweise – also etwa Zeugenberichte und Bildmaterial – präsentiert, die Morpheus’ Darstellung bestätigen. Alles in allem ist Neo längst zu dem Schluss gekommen, dass Morpheus in der Öffentlichkeit falsch dargestellt wird,15 aber ihm bleibt unerklärlich, warum Morpheus so handelt, wie er handelt. Die einzige sich im Verwirrspiel abzeichnende Spur besteht darin, dass jene im Zusammenhang mit Morpheus’ Aktivitäten verschwundenen Menschen etwas mit dem Reizwort Matrix zu tun haben müssen, dessen genaue Bedeutung und mögliche Schlüsselfunktion von niemandem durchschaut werden kann.

      12 Das demonstrative Zeigen des Baudrillard-Textes beeinflusste die Interpretation von The Matrix erheblich, umso mehr als kolportiert wurde, dass die Wachowskis ihrem Hauptdarsteller Keanu Reeves das Buch zur Rollenvorbereitung „auferlegten“ (neben Introducing Evolutionary Psychology von Dylan Evans und Out of Control von Kevin Kelly, vgl. Stratton 2006, S.31). Dagegen halten z.B. Gordon (2003) oder Lutzka (2006) eine Interpretation von The Matrix am Baudrillardschen Leitfaden für gänzlich irreführend, und auch Baudrillard selbst soll sich ablehnend geäußert haben (vgl. Watson 2003 S.135, Yeffeth 2003, S.245).

      13 Genauer gesagt, soll dem leicht gynandrischen Reeves gezielt die „androgyne“ Moss zur Seite gestellt worden sein. Hierzu Clover (2004, S.22): »Reeve’s capacity to occupy the camera’s gaze as a sort of passive object – a talent traditionally marked as feminine – suggests an androgyny so often marked next-gen, futuristic. This is underscored by Carrie-Anne Moss, who seems to have been styled (if not indeed cast) for her resemblance to him (…).«

      14 Wobei diese nicht allesamt Opfer von Morpheus und seinen Leuten werden – man denke nur an die Polizisten, die bei der Verfolgung von Trinity den „unmöglichen“ Sprung des Agenten von einem Hausdach zum anderen sahen. Diese Beobachtung dürfte ihr Todesurteil bedeuten, da kein Matrizianer an den Punkt kommen darf, die Scheinrealität zu durchschauen: das System muss solche Individuen sofort liquidieren, um nicht instabil zu werden. Die Alternative hierzu wäre ein gezielt verabreichtes Vergessen, wie Cypher es später für sich verlangen wird, aber Cyphers Fall kann nur bedingt mit den erwähnten Polizisten verglichen werden.

      15 Neos Bild von Morpheus hat sich so weit von der öffentlichen Wahrnehmung entfernt, dass er ihn später im Hotel Lafayette, also bei der ersten persönlichen Begegnung, mit den Worten »Es ist mir eine Ehre, Sir« anreden wird.

       Metacortex

      Neo wird von einem misstönend schrillenden Radiowecker aus dem Schlaf gerissen. Ob er bis tief in die Nacht „gefeiert“ hat ist fraglich, viel eher dürfte ihn die Begegnung mit Trinity in quälende Unruhe versetzt haben, so dass er auch nach der Rückkehr in sein Zimmer noch lange wach lag. All zu viele Fragen stellten sich ihm: sein offensichtlich von Trinity gehackter Rechner, und dann ihre Andeutung, dass sie von Morpheus erfahren habe, was die »Matrix« sei. Die warnenden Formulierungen Trinitys (»sie suchen dich«) verschlimmern die Wirkung, die dieser Abend auf Neos ohnehin schon untergrabene Psyche hatte.

      In seiner Verwirrung vergaß er, für den kommenden Morgen die richtige Weckzeit einzustellen: als Neo um 9:18 unsanft erwacht, weiß er, dass er zu spät zur Arbeit kommen wird. Da die Wachowskis kaum eine Gelegenheit ungenutzt lassen, auch mit Ziffern Gedanken und Bilder auszudrücken, muss man sich sogleich fragen, ob die (natürlich in schönstem Matrix-Giftgrün) angezeigte 9:18-Weckzeit eine Zahlensymbolik transportiert. Dies ist durchaus möglich, denn die Szene zeigt ja ein erschrockenes Zu-Sich-Kommen in einer als unerträglich empfundenen Gegenwart. Diese Gegenwart könnte das simulierte Jahr 1999 sein, die Weckzeit wäre dann als 9 und 1+8 zu lesen, sprich, 9 und 9. Nicht vergessen darf man aber, dass für Trinitys Anruf zu Beginn des Filmes der Februar 1998 angezeigt wurde. Wenn man die Annahme vermeiden will, dass seit Trinitys damaliger Flucht aus der Matrix mehr als zehn Monate vergangen sind (etwa, da die Rebellen sich über ihre Ortung wunderten und die geplante Befreiung Neos verschoben), so spielt die Wecker-Szene wohl ebenfalls noch 1998. Sie könnte aber darauf verweisen, dass Neo gut ein Jahr später von Morpheus lernen wird, wo in der Zeit er sich wirklich einzuordnen hat (sein „wahres“ Erwachen also, insofern Erwachen aus einem Traum mit raumzeitlicher Neuorientierung einhergeht).16

      Dass Neo sein „Normalleben“ als unerträglich empfindet und sich aus genau diesem Grunde seit Jahren auf nächtlicher Sinnsuche befindet, unterstreichen die folgenden Szenen. Gezeigt wird das Hochhausgebäude, in dem sein Arbeitgeber Metacortex situiert ist. Der Firmenname bezieht sich auf die Hirnrinde, den Cortex, in dem die absolute Mehrheit der informationsverarbeitenden Neuronen ihren Platz hat (diese Zellen werden übrigens als „kortikale Säulen“ bezeichnet; sie sind, wenn man so will, „turmförmig“). Meta-Cortex lässt sich demnach als „über der Hirnrinde“ lesen, was doppelsinnig ist: einmal verweist es auf das technokratische Streben nach Rechnern und Programmen, die spezielle menschliche Leistungen imitieren oder übertreffen können – mit dem erhofften Klimax einer KI –, zum anderen darauf, dass diese Entwicklung schon längst stattgefunden hat und sämtliche Gehirne der Matrizianer einem Kontrollsystem untergeordnet sind, welches ihre Hirnrinde ununterbrochen mit einer täuschenden Realitätssimulation überflutet (interessant ist, dass man im Inneren des Gebäudes einen modifizierten Namen liest: »MetaCorTechs«, mit offensichtlichem Anklang an core – die Bedeutungsverschiebung von „Rinde“ zu „Kern“ wirkt intendiert).

      Nachdem der hoch aufragende Metacortex-Tower aus „Passantenperspektive“ gezeigt wurde, geht in der nächsten Einstellung der Kamerablick durch eines seiner Fenster. Ermöglicht wird er in gleichsam demonstrativer Manier, da gerade Fensterputzer am Werk sind: Die Reinigungswerkzeuge und das ablaufende Spülwasser geben den Blick des Zuschauers durch das blitzblanke Glas frei, und von innen schaut der vor dem Schreibtisch seines Chefs stehende Neo auf den Betrachter zurück. Diese Fensterputzidee ist von eigentümlichem Reiz; Clover (2004, S.60 f.) erkennt in ihr einen Neo, der sieht und gleichzeitig nicht sieht17 – was, in aller Kürze zusammengefasst, das Dilemma seines bisherigen Lebens und die Quelle seiner Leiden ist. Interpretatorisch noch einen Schritt weiter – und zwar im wahrsten Sinne des Wortes – geht Di Filippo (2003, S.66). Er deutet die Szene als (wenn so intendiert, dann genial zu nennende) Verbildlichung von William Blakes berühmtem Aphorismus »if the doors of perception were cleansed, everything would appear to man as it is: infinite«. Di Filippos Vorschlag hat einiges für sich, da er darauf verweisen kann, dass Neo nur kurze Zeit später eines der Hochhausfenster als „Tür“ benutzen wird, um die Begegnung mit der Tiefe zu wagen. Wie aus einer Anmerkung bei Schuchardt (2003, S.7) ableitbar ist, dürfte diese cineastische Umsetzung des Blake-Zitates schon an Neos Zimmertür (sic!) vorbereitet worden sein, nämlich, als sein Kumpel Choi von Meskalin schwärmte: Aldous Huxleys einflussreicher Bericht über dessen Meskalinerfahrungen hieß The Doors of Perception (und inspirierte wiederum Jim Morrison zum Bandnamen