Matrix-Liebe. Traian Suttles. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Traian Suttles
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783947612765
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oder eine Folge von Aufwachbildern?11

      Der Begriff »Matrix« erscheint in dieser Szene zum ersten Mal – natürlich in grüner Schrift vor schwarzem Hintergrund –; er ist vielfach aufgeladen und für Neo bisher unentschlüsselbar. Eine der Auslegungen, wie die Interpreten des Filmes sie später dem Publikum präsentierten, dürfte aber recht nahe an den Bedeutungskomplex heranreichen, dem Neo bei seinen Elukubrationen auf der Spur ist (Faller 2004, S.1):

      »(…) the idea of the Matrix closely parallels our internet, a worldwide network of computers. This network we call the World Wide Web depends on the interconnectivity of each computer to create the fabric of the virtual community. On one level the Matrix is a symbol for the internet and its intersection with pop culture. (…) Maybe the Matrix is first and foremost a cyber-symbol – a symbol of the way computers are changing our culture, and of what we hope and fear our culture might become.«

      Als Neo die Zimmertür öffnet, erkennt der Zuschauer auf dieser die Nummer 101. Seeßlen (2003, S.70) verweist auf das entsprechende Zimmer der Ängste in Orwells 1984; dem obigen Zitat Fallers entsprechend scheint das Internet Neo in einen wahren Abgrund hineingezogen zu haben. Wie bald deutlich wird, haben diese Einblicke mit Morpheus zu tun; er ist derjenige, der Neo auf eine alptraumhafte Wirklichkeit vorbereitet – einen Alptraum, der über alles hinausgeht, was der junge Hacker sich vorstellen kann.

      9 Witzig ist, dass die Wachowskis auch hier wieder (d.h. wie im Vorspann) ein Spiel mit den Zahlen 5 und 6 treiben: Bei einer kurzen – sicherlich nicht unabsichtlichen! – Kamerafahrt entlang Neos CD-Player sieht man, dass dieser gerade den Track Nr.5 spielt. Auf dem Mezzanine-Album von 1998, mit dem »Dissolved Girl« auf den Markt kam, ist dies aber Track Nr.6.

      10 Entlehnt aus der im Vorkapitel schon erwähnten Trashvorlage Neuromancer von William Gibson (1984). Der erste Satz, in dem das Wort auftaucht, lautet in deutscher Fassung (Gibson 1987, S.12): »Alles Speed, das er nahm, alle Streifzüge in die Gassen und Winkel von Night City halfen nichts; immer noch sah er im Schlaf die Matrix, helle Gitter der Logik, die sich über der farblosen Leere entfalteten…«

      11 Also eine Abfolge sogenannter hypnopomper Bilder, im Gegensatz zu hypnagogen Bildern (= Einschlafbilder).

       Follow the white rabbit: Neo und Trinity

      Aber auch seine bisherigen Realitäten außerhalb des www sind für Neo ein ziemliches Grauen. Im Job auf der untersten Stufe der Karriereleiter stehend verdient er so wenig Geld, dass er sich keine bessere Wohnung als seine winzige Mansardenbude leisten kann. Um über die Runden kommen beziehungsweise technisches Equipment kaufen zu können, vertickt er Hackerhilfen für Gleichgesinnte – wie eben für seinen Kumpel Choi, der gerade mit seinen ausgehbereiten Jungs und Mädels vor der Tür steht. Neo nimmt 2000 Dollar in bar entgegen; dann sucht er aus einem Versteck den gewünschten Datenträger heraus: dieser verbirgt sich in dem weiter oben schon erwähnten, zum Behältnis umfunktionierten Buch Simulacra and Simulation,12 das somit selbst nur ein Simulakrum ist.

      Die betreffende Szene wurde vielfach ausgedeutet, etwa, da der Buchumschlag von Neos Exemplar keinen Autorennamen zeigt, es deutlich voluminöser wirkt als die bekannten Auflagen – vielleicht eine Reverenz an die »green box« in Still of the Night (1982) – oder das Schlusskapitel »markant in die Mitte gerückt ist« (Watson 2003, S.131). Als Neo den Band öffnet, um den Datenträger (eine Minidisk) hervorzuholen, kann man auf den links befindlichen Seiten den Anfang des Schlussaufsatzes »On Nihilism« erkennen. Aus den Seiten rechts davon ist der Text in Form einer rechteckigen Aussparung sauber herausgeschnitten worden; der bis auf den Einband reichende Leerraum enthält mehrere versteckte Datenträger. Clover (2004, S.29, S.31f.) deutet dies anhand eines Slavoj Žižek-Zitats, demzufolge die Lügenwelt, in der Neo sich bewegt, nicht – wie er und viele Gleichgesinnte annehmen – sprachlich gesteuert ist: simpler Computercode, »passing and non-passing of the electrical signal«, hat die sprachlichen Manipulationen der Vergangenheit abgelöst (wobei – angesichts der ungeheuren Simulationsleistung der Matrix – wohl eher ein Quantencomputer anzunehmen ist, also kein klassischer binärer Code mehr). Nicht nur das Buch, sondern alle Gegenstände in Neos Welt sind täuschende Hüllen, in denen sich in Wirklichkeit Computercode verbirgt. Von dieser Wahrheit ist Neo trotz größter Anstrengungen jedoch sehr weit entfernt; das einzige, was er hat, ist der geheimnisvolle Begriff »Matrix« (also – da unausgedeutet – ebenfalls eine leere Hülle!). Neo fragt sich schon seit geraumer Zeit, was genau hiermit bezeichnet sein könnte, und ahnt nicht, dass er mit seinem Datenträger-Versteck regelmäßig ein perfektes Sinnbild in der Hand hält.

      Sein Kumpel Choi, der die Minidisk hoch erfreut annimmt, bemerkt, wie überanstrengt Neo aussieht. Im kurzen Dialog zwischen Neo und Choi steckt jede Menge hintergründiger Humor; Chois Bemerkungen »You are my saviour – my own personal jesus«, »This never happended. You don’t exist« sowie »Hey, it just sounds to me like you need to unplug, man« verweisen allesamt auf das Verhältnis Matrix-Realität sowie auf die speziellen Folgen, die sich für Neo hieraus ergeben werden.

      Der Deal an der Zimmertür ist jedenfalls nicht, was Neo gerade beschäftigt – er ist immer noch verwirrt über das halluzinatorisch anmutende Erlebnis, das ihn soeben am Rechner überkam. Was dies betrifft, ist nicht nur der Name seines Besuchers Choi, sondern auch der seiner neben ihm stehenden Freundin Dujour (der deutschen Synchro offenbar nicht zugänglich) aussagekräftig. Ersteres ist Französisch „Die Wahl“, letzteres „des Tages“ (etwa Lawrence 2004, S.200, S.201). Neo ahnt noch nicht, dass der Wendepunkt für ihn gekommen ist und seine erste persönliche Begegnung mit Trinity bevorsteht. Überrascht erblickt er das weiße Kaninchen, das Dujours Schulter ziert (er kann es erst sehen, als Dujour sich an ihren Freund lehnt), und entscheidet spontan, Chois Truppe in den Club zu begleiten, obwohl er morgen arbeiten muss und sich eigentlich keine Feierei erlauben darf. Er leistet der Aufforderung follow the white rabbit Folge; eine von mehreren Anspielungen auf Alice’s Adventures in Wonderland (wie z.B. die Verspätung Chois, über die Neo sich beschwerte und an der „das verspätete Kaninchen“ Dujour Schuld gewesen sein soll).

      Am Ort des Vergnügens angekommen, ist es endlich so weit – der missmutig vor sich hingrübelnde Neo wird von Trinity angesprochen, die nach den ersten, gleichsam einleitenden Worten so nahe an ihn herankommt, dass ein Außenstehender an einen langen, intensiven Kuss denken könnte. In Wirklichkeit flüstert sie ihm einige Worte zu, unter anderem, dass sie dieselbe Suche wie Neo bereits hinter sich habe, dass sie ihrerseits gefunden worden sei (nämlich von Morpheus) und so auch erfuhr, was sich hinter dem Reizwort Matrix verbirgt.

      Diese „frühe Nähe“ zwischen Neo und Trinity, die zudem eine gewisse Ähnlichkeit13 haben, lädt durchaus zur Interpretation ein, nämlich zum Vergleich mit dem altägyptischen Osiris-Mythos. Diesen wollen wir jedoch erst später vornehmen, und zwar – passenderweise – anlässlich des ersten echten Kusses von männlicher und weiblicher Heldenfigur (siehe das Kapitel zu Neos Transformation). Zum einleitenden Austausch als auch dem geflüsterten, „brisanten“ Teil seien folgende Anmerkungen gegeben, die weniger Richtung altes Ägypten als vielmehr zu den Religionen der Nachbarregionen führen. Trinity ist ein bekannter Name in der Hackerszene (dank Eindringen die IRS d-base, also der Datenbank der US-Steuerbehörde), und Neo begreift schnell, dass sie es gewesen sein muss, die an diesem Abend ihre Botschaften auf seinen Monitor brachte. Doppelbödig wird der Austausch, als Neo zugibt, stets einen männlichen Trinity imaginiert zu haben: »Ich dachte, du wärst n’ Kerl.« Trinitys kühle Antwort lautet: »Denken alle Kerle.« Lawrence (2004) sieht hierin den ganz normalen Sexismus der 1999er-Welt zum Ausdruck gebracht und stellt diesem die Zion-Szenen aus Reloaded/Revolutions als nicht-sexistische Gesellschaft gegenüber. Auch wenn der Dialog ohne jeden Zweifel auf Alltagssexismus verweist (und spezieller vielleicht auf Machismen der Hacker-Szene), geht er weit über die 1999er-Realitäten hinaus: wie Schuchardt (2003, S.6) bemerkt, wird zusätzlich die Wahl des Hacker-Alias »Trinity« beleuchtet, da das hebräische Wort für den Heiligen Geist, ruach, ein Femininum ist (vgl. Emig 2006, S.200, sowie unten das Nebukadnezar-Kapitel).

      Auf