Jesus war kein Europäer. Kenneth E. Bailey. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Kenneth E. Bailey
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783417228694
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einen Glückszustand, der bereits existiert. Die zweite Aussage bekräftigt eine Zukunft, die ihr bereits jetzt ein glückliches Leben ermöglicht. Hauck schreibt: „Die Gruppe μακάριος [makarios], μακαρίζειν, μακαριμός hat im NT ihre Besonderheit daran, dass sie ganz überwiegend auf die einzigartige religiöse Freude bezogen ist, die dem Menschen aus dem Teilhaben am Heil des Reiches Gottes erwächst.“69

      Unter Berücksichtigung dieser Definition wenden wir uns nun den Seligpreisungen selbst zu.

      Glückselig die Armen im Geist,

       denn IHRER ist das Reich der Himmel.70

      Was meint Jesus mit „arm im Geist“? Lukas sagt lediglich „Glückselig ihr Armen“. Über diese beiden Sätze wird in der Christenheit der westlichen Welt seit Jahren debattiert. Die einen behaupten, die authentische Stimme Jesu sei in der Aussage im Lukasevangelium zu hören. Den Armen ist von Gott das Glück zugesprochen. Matthäus, so heißt es, habe diese einfache und gewaltige Aussage vergeistlicht. Eine zweite Möglichkeit, den Unterschied zwischen den zwei Sätzen zu begreifen, besteht darin, Jesus im Kontext der prophetischen Tradition zu verstehen, sodass für ihn – wie für Jesaja – die „Armen“ die demütigen und frommen Menschen sind, die Gott suchen. Matthäus’ Formulierung würde in diesem Fall dazu dienen, die ursprüngliche und in der Lukas-Formulierung bereits enthaltene Bedeutung hervorzuheben. In Jesaja 66,2, von wo Jesus seine Formulierung entlehnt, heißt es:

      Aber auf den will ich blicken:

       der arm [‘ānî] und zerschlagen im Geist ist

      und der zittert vor meinem Wort. [eigene Übersetzung]

      Wenn der Leser des Matthäusevangeliums bereits von diesem Text beeinflusst ist – und von anderen ähnlichen Texten aus Jesaja und den Psalmen –, dann braucht er den Zusatz im Geist nicht. Wenn der Hintergrund aus dem Jesajatext nicht bekannt ist, ist der Zusatz arm im Geist zum Verständnis entscheidend. Bei Jesaja bezieht sich das Wort arm nur selten auf Menschen, die nicht genug zu essen haben (Jes 58,7). Vielmehr bezeichnet es in der Mehrzahl der Fälle die demütigen und frommen Menschen, die wissen, dass sie auf Gottes Gnade angewiesen sind, und vor seinem Wort „zittern“.71

      Dann erklärt Jesus, dass diese selig Gepriesenen „Bürger“ des Himmelreiches sind, das ihnen bereits gehört. Doch was ist das für ein Reich? Auf diese Frage gibt es keine Antwort. Alles, was Jesus sagte und tat, hängt irgendwie mit Gottes Königreich zusammen. Es hat mit der Herrschaft Gottes im Leben einzelner Menschen und ganzer Gesellschaften zu tun. Im Vaterunser sind die Worte „Dein Reich komme“ enthalten, die sich offensichtlich auf eine Zukunft beziehen, die sich erst langsam entfaltet. Doch das Reich Gottes ist bereits in Jesus Christus angebrochen, der sagte: „Wenn ich aber durch den Finger Gottes die Dämonen austreibe, so ist also das Reich Gottes zu euch gekommen“ (Lk 11,20).

      Wir leben in der Zwischenzeit zwischen dem Anbruch von Gottes Königreich (seiner Herrschaft), das mit Jesu Kommen auf diese Erde anbrach, und seiner Vollendung am Ende der Zeiten. Unser Kampf um Frieden und Gerechtigkeit auf dieser Erde gehört zur Nachfolge Christi dazu, während wir auf das Königreich auf Gottes neuer Erde, das Gott stiften wird, warten und uns dafür einsetzen.

      In dieser ersten Seligpreisung sagt Jesus, dass die Armen im Geist bereits das Reich Gottes besitzen. Viele Menschen zur Zeit Jesu benutzten den Ausdruck das Reich Gottes als Beschreibung für einen jüdischen Staat, in dem allein Gott König ist.72 Im Gegensatz dazu verkündet Jesus, dass das Königreich bereits bei den Armen im Geist (nicht bei den Zeloten) gegenwärtig ist.

      Die alte syrische Übersetzung dieses Textes lautet: „Es ist ein Glück für die Armen im Geist, dass das Himmelreich ihnen gehört.“73 Wie bereits erwähnt, ist der zweite Satzteil keine Belohnung für das, was im ersten Satzteil ausgesagt ist. Vielmehr besitzen die Armen im Geist bereits das Reich Gottes.

      Glückselig die Trauernden,

       denn SIE werden getröstet werden.

      Dies ist ein klarer Fall eines „göttlichen Passiv“. Gott wird diejenigen trösten, die trauern. In der modernen Bibelübersetzung Das Buch wird die Passivform aktiv wiedergegeben: „Wahres Glück haben alle, die am Ende sind. Denn sie werden erleben: Gott lässt sie nicht allein.“ (DBU)

      Worüber sollten wir trauern? Warum werden „die Trauernden“ glückselig genannt? Der menschliche Geist hat eine entsetzliche Seite, die es genießt, andere leiden zu sehen. Die Filmindustrie hat diese finstere Seite entdeckt und verdient jedes Jahr Milliarden damit. Diese perverse Faszination im Herzen der Menschheit ist eine widerwärtige Form des Bösen. Am anderen Ende des Spektrums werden in der Gesellschaft Milliarden damit verdient, die Öffentlichkeit in Watte zu packen und sie vor jeder Form von Leid oder auch nur Unannehmlichkeiten zu schützen. Es ist nicht nötig, beim Essen Selbstbeherrschung walten zu lassen, Sport zu treiben oder Schmerzen zu ertragen. Esst, was ihr wollt, kauft unsere Pillen, und ihr werdet abnehmen, ohne euch plagen zu müssen. Unsere Seligpreisung hat weder mit der einen noch mit der anderen dieser Extremhaltungen zu tun. Wenn Menschen trauern, verbirgt sich irgendein Leid dahinter. Wie sollen wir diese Dinge verstehen?

      Christen werden nie dazu gedrängt, sich aktiv dem Leiden auszusetzen; allerdings werden sie ermutigt, Leid als außergewöhnlichen Lehrmeister anzuerkennen. Wir wissen wenig über die große Tiefe des menschlichen Geistes, bis wir selbst Leid durchgemacht haben. Schmerz ordnet unsere Prioritäten neu. Zum Flüchtling zu werden, ist schrecklich, und man muss sich den Kräften entgegenstellen, die Menschen aus ihrer Heimat vertreiben. Doch jeder, der aus seinem Zuhause fliehen muss – wie es mir im Libanon dreimal geschah –, lernt schnell, was im Leben wirklich zählt, und dass aller Besitz letztendlich wertlos ist. Trauernde ertragen Leid, und wer dabei Gottes Seligpreisung vernimmt, erfährt Gottes Trost.

      Große Naturkatastrophen wie Wirbelstürme oder Überflutungen treffen unsere Welt. Wenn es eine Vorwarnung gibt, bleiben meistens einige mutige Menschen in ihren Häusern. Die große Mehrheit der Einwohner flieht jedoch vor der herannahenden Verwüstung. Wenn der Sturm nachlässt, kehrt, wer kann, zurück nach Hause. Und manchmal wird in Berichten über die Katastrophe zwischen den Zeilen ein gewisses Muster erkennbar. Oft gibt es einen augenfälligen Gegensatz zwischen denen, die bleiben, und denen, die gehen. Die Herzen derer, die den Sturm aus der Nähe erlebten und doch überlebten, sind oft voller Dankbarkeit darüber, dass sie noch am Leben sind. Die Rückkehrer dagegen sehen manchmal nur die Verwüstung und spüren nichts als Schmerz. Daraus folgt nicht, dass wir uns absichtlich zerstörerischen Stürmen aussetzen müssen, um Dankbarkeit zu lernen. Doch wer Leid erlebt, kann gerade in seiner Trauer auf besondere Weise von Gott gesegnet werden.

      In Prediger 7,2-4 heißt es:

      Besser, ins Haus der Trauer zu gehen,

      als ins Haus des Gastmahls zu gehen […]

      Besser Verdruss als Lachen;

      denn bei traurigem Gesicht ist das Herz in rechter Verfassung.

      Das Herz der Weisen ist im Haus der Trauer,

      das Herz der Toren aber im Haus der Freude.

      Jahrzehntelang habe ich über diese Worte und ihre Bedeutung nachgedacht. Ich bin noch nicht zu einem endgültigen Schluss gekommen. Kürzlich war ich bei der Beerdigung eines lieben Freundes und Weggefährten auf dem Weg des Glaubens. Mehrere Bekannte des Verstorbenen berichteten davon, wie er sie ermutigt und beeinflusst hatte. Während sie erzählten und wir uns an sein Leben erinnerten, hob sich die Stimmung unter den Trauergästen in majestätischer Weise. Alle Freunde hatten die Möglichkeit, von ihren Erinnerungen an seinen Mut und Glauben, an seine Treue, Loyalität, Liebe und Weitsicht zu erzählen. Ja, es gab Tränen und auch Lachen, doch wir alle hörten in Herzen und Gedanken den Widerhall des Glaubens, und auf seltsame, unbeschreibliche Art und Weise war „bei traurigem Gesicht […] das Herz in rechter Verfassung“, und die Seligpreisung gewann eine neue Bedeutung.