2. Glückselig zu sein, bezeichnet einen geistlichen Zustand, der von Gott geschenkter Freude geprägt ist. Er ist bereits Wirklichkeit und keine Voraussetzung, die erfüllt werden muss, um eine Belohnung zu erhalten.
3. Im Licht des Begriffs bei Jesaja sind die „Armen im Geist“ die Demütigen und Frommen, die Gott suchen. Das Königreich Gottes gehört ihnen.
4. Gott wird diejenigen trösten, die in Trauer sind.
5. Es ist weder richtig, Leiden zu leugnen, noch es auf düstere Art und Weise unterhaltsam zu finden.
6. Ein Weg des Leidens kann zu tiefer Weisheit führen.
7. Das Haus der Trauer kann das Herz froh machen.
8. Die Gerechten trauern über Ungerechtigkeit und werden nicht müde, Mitleid zu zeigen.
9. Die Gerechten trauern über ihre eigene Sünde und werden getröstet.
10. Unter dem Begriff „das Land“ verstand Jesus das Land Israel. Hier besitzen nur die Sanftmütigen Erbrecht – nicht die Gewalttäter oder die Mitglieder einer bedeutenden Sippe. In der späteren Kirche wurde der Text auf die gesamte Erde gedeutet.
11. Die Sanftmütigen sind diejenigen, die demütig Gott suchen. Sie sind weder zu kühn noch zu ängstlich.
12. Sanftmütig zu sein, ist durchaus mit Zorn über anderen zugefügtes Ungerecht zu vereinbaren.
6
Die Seligpreisungen – Teil II
MATTHÄUS 5,6-12
In diesem Kapitel wollen wir über die vierte bis achte Seligpreisung nachdenken.
Die vierte Seligpreisung
Glückselig, die nach der Gerechtigkeit hungern und dürsten,
denn sie werden gesättigt werden.
Als guter Orientale gebraucht Jesus auch hier sehr scharfsinnig die dort übliche Bildsprache. Mit der Formulierung „nach der Gerechtigkeit hungern und dürsten“ wird in Worten, die eigentlich für körperliche Bedürfnisse stehen, eine geistliche Wirklichkeit beschrieben. Die überwiegende Mehrheit der Menschen in höher entwickelten Ländern besitzt mehr Lebensmittel und Wasser, als sie benötigt; doch arme Menschen wissen noch, was Hunger ist. Sie kennen Durst als Existenzsorge, während in Industrieländern echter Durst fast unbekannt ist. Das ist schon so lange der Fall, dass sich dort immer mehr Selbstzufriedenheit breitmacht und Gottes kostbare Geschenke, Nahrung und Wasser, verschwendet werden. Im Gegensatz dazu kannten viele Menschen in Jesu Welt sowohl erbarmungslosen Hunger als auch lebensbedrohlichen Durst.
Einmal wäre ich fast verdurstet. Während ich im Süden von Ägypten lebte, reiste ich einmal mit einer Gruppe von Freunden tief in die Sahara hinein. Als unsere Kamelkarawane loszog, stieg die Temperatur auf über vierzig Grad im Schatten; nur, dass es keinen Schatten gab. Unterwegs verlor ein undichter Wasserschlauch aus Ziegenleder all seinen kostbaren Inhalt.
Da wir in der Hitze viel Wasser brauchten, ging es bald zur Neige, und eineinhalb Tage lang reisten wir unter schrecklichem Durst weiter. Das Ziel unserer Exkursion war Bir Shaytun, eine berühmte Quelle tief in der Wüste. Unser Guide versprach uns, dass sie niemals austrocknete – aber konnten wir lange genug überleben, um das lebensspendende Nass zu erreichen? Mein Mund trocknete völlig aus und essen war unmöglich, denn beim Schlucken fühlte sich mein Hals an, als würden zwei Stücke Sandpapier aneinanderreiben. Ich konnte nur noch verschwommen sehen und es kostete mit jedem Schritt größere Überwindung, weiterzugehen. Wir wussten: Wenn die Quelle ausgetrocknet wäre, hätten unsere bewaffneten Wachposten uns wahrscheinlich unsere drei Lastkamele gewaltsam abgenommen und wären mit ihnen zurück ins Tal gezogen, während sie den Rest von uns dem sicheren Tod in der Einöde überlassen hätten. Während ich vorwärtsstolperte, fiel mir dieser Vers ein und ich wusste, dass ich mich nie mit der gleichen unbeirrbaren Leidenschaft um Gerechtigkeit bemüht hatte, wie ich jetzt dem Wasser nachjagte.
Ja, wir schafften es, uns zur Quelle zu schleppen, und sie war voller „Wein Gottes“, wie Wasser von den Wüstenstämmen des Nahen Ostens genannt wird. Dabei lernte ich etwas über die Sprache Jesu. In einer Welt, in der Wasser rar und Reisen beschwerlich war, wussten seine Zuhörer, was es bedeutete, nach Nahrung und Wasser zu „hungern und dürsten“. Sie konnten verstehen, was Jesus über die verzehrende Leidenschaft nach Gerechtigkeit sagte.
Doch Jesus sagte nicht: „Glückselig, die ein gerechtes Leben führen“, sondern vielmehr: „Glückselig, die nach der Gerechtigkeit hungern und dürsten“. Diese Aussage setzt voraus, dass Gläubige ständig nach Gerechtigkeit trachten. Glückselig sind nicht diejenigen, die Gerechtigkeit umsetzen, sondern diejenigen, die um jeden Preis nach einer vollkommeneren Gerechtigkeit streben. Dieses beständige, unermüdliche Streben nach Gerechtigkeit zeichnet die Menschen aus, denen Jesu Seligpreisung gilt.
In Matthäus 13,44-46 finden wir zwei zusammengehörende Gleichnisse, die Licht auf diese Seligpreisung werfen. Das erste vergleicht das Himmelreich mit einem Mann, der einen Schatz in seinem Acker findet und alles verkauft, um diesen Acker zu erwerben. Das zweite Gleichnis vergleicht das Himmelreich mit einem Kaufmann, der nach einer sehr wertvollen Perle sucht. Entgegen dem weitverbreiteten Verständnis wird das Himmelreich im zweiten Gleichnis nicht mit der Perle verglichen, sondern mit dem Kaufmann, der danach sucht. Die Seligpreisung, die wir gerade betrachten, entspricht dem zweiten Gleichnis. Die Gläubigen, die nach Gerechtigkeit hungern und dürsten, werden in ihrem Streben als glückselig bezeichnet. Doch was genau ist Gerechtigkeit?
Das Wesen der Gerechtigkeit
Die großen Worte ṣědāqâh (hebräisch) und dikaiosynē (griechisch) sind in der Bibel theologische Schwergewichte. Der Artikel im Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament zu diesen und den damit verwandten Begriffen erstreckt sich über 53 dicht gefüllte Seiten.77 Der Schlüssel zu alledem liegt darin, dass ṣědāqâ nicht eine „absolute ideelle ethische Norm“78 bezeichnet, sondern „durchaus ein Verhältnisbegriff ist und eine Beziehung bezeichnender Begriff“ ist. „Jedes Verhältnis bringt bestimmte Ansprüche an das Verhalten mit sich, und die Befriedigung dieser Ansprüche, welche sich aus dem Verhältnis ergeben und bei welcher allein das Verhältnis bestehen kann, wird mit unserem Begriff
[ṣædæq] bezeichnet.“79Angesichts eines so fundamentalen Begriffes ist klar, dass Gerechtigkeit wie ein Diamant mit vielen Facetten ist. Vier davon wollen wir kurz näher betrachten.
Erstens bezieht sich Gerechtigkeit in der biblischen Literatur häufig auf die mächtigen Heilstaten Gottes. Auch hier ist von Rads Einsicht hilfreich: „Von den ältesten Zeiten an hat Israel Jahwe als den gefeiert, der seinem Volk die universelle Gabe seiner Gerechtigkeit zuwendet. Und diese Israel zugewandte
[ṣědāqâ] ist immer Heilsgabe.“80 Eine der Stellen, an denen dies deutlich zum Ausdruck kommt, findet sich in Micha 6,3-5:„Mein Volk, was habe ich dir angetan,
und womit habe ich dich ermüdet? Sage aus gegen mich!
Ja, ich habe dich aus dem Land Ägypten heraufgeführt
und aus dem Haus der Sklaverei erlöst;
und ich habe Mose,
Aaron und Mirjam vor dir hergesandt.
Mein Volk, denk doch daran, was Balak, der König von Moab, beratschlagt,
und was Bileam, der Sohn des Beor, ihm antwortete,
denk an den Übergang