Lukas 2,34-35
Was kann diese beängstigende Aussage bedeuten? Wie ist die Begründung „damit Überlegungen aus vielen Herzen offenbar werden“ zu verstehen? Offenbar soll es heißen, dass sowohl durch Jesu als auch durch Marias Seele ein Schwert gehen wird. Dem Leser wird erklärt, dass Maria an den Ereignissen der Kreuzigung beteiligt sein und ihr Leid dazu beitragen wird, die „Überlegungen aus vielen Herzen“ offenzulegen. Wird Marias Treue am Kreuz die Handlanger des Bösen um sie herum dazu bringen, ihre eigene Brutalität mit Marias mutiger Liebe zu vergleichen?
Das Geschehen am Kreuz ist von einer Fülle von Kompromissen umgeben. Alle Beteiligten werden seltsam bloßgestellt. Die Jünger glaubten, doch in ihrer Angst flohen sie. Petrus machte kühne Versprechungen, aber verleugnete Jesus. Der Hohepriester wollte die Heiligkeit des Tempels bewahren und die Römer vom Eindringen in die heiligen Stätte abhalten. Doch dadurch trug er zum Tod eines unschuldigen Menschen bei. Die Soldaten führten nur Befehle aus, doch diese Befehle verstießen gegen römisches Recht. Pilatus wollte seinen Posten behalten und sich nicht die Hände schmutzig machen. Vermutlich befürchtete er, die Tempelvorsteher könnten einen negativen Bericht über ihn an den Kaiser senden, der seiner Karriere schaden würde. Pilatus war bereits in mehrere Konfrontationen mit der jüdischen Bevölkerung verwickelt gewesen, die er alle verloren hatte. Könnte seine Karriere bei dieser wechselvollen Vergangenheit eine weitere Niederlage überstehen? Seine persönlichen strategischen Interessen waren ihm offensichtlich wichtiger als die Unschuld eines Zimmermanns aus der Provinz. Das Kreuz offenbarte Pilatus’ wahren Charakter. Die innersten Gedanken vieler Menschen wurden durch das Leiden Jesu am Kreuz offengelegt, und Maria hatte Anteil an diesem Leid.
Auf Golgatha entschied sich Maria, bis zum Ende bei ihrem Sohn zu bleiben und sein Leiden bis zu seinem Tod zu begleiten. Sie stand nicht unter Arrest und hätte einfach gehen können. Sie wusste, dass sie den Lauf der Ereignisse, die sich vor ihren Augen abspielten, nicht hätte aufhalten können, indem sie etwa mit den Soldaten stritt oder bei den Hohepriestern Fürsprache einlegte. Sie konnte nur bleiben und mit Jesus leiden. Es war tatsächlich ein Schwert, das ihre Seele durchbohrte und sie zum Vorbild für christliche Nachfolge machte.
Diese großen Ereignisse werfen bereits in der Weihnachtsgeschichte ihre Schatten voraus. Der bekannte sri-lankische Pastor Daniel T. Niles dichtet in einem Weihnachtslied:
On a day when men were counted, God became the son of man;
That his name in every census would be entered, was his plan.
God, the Lord of all Creation, humble takes a creature’s place;
He whose form no man has witnessed, has today a human face.
When there shone the star of David in the spangled eastern sky,
Kings arrived to pay their homage to the Christ, the Lord most high.
Yet not all, for lo there soundeth through the streets a fearful cry,
For a king who will not worship has decreed that Christ must die.
Yet it’s Christmas, and we greet Him, coming even now to save;
For the Lord of our salvation was not captive to the grave.
Out of Egypt came the Saviour, Man’s Emmanuel to be,
Christmas shines with Easter glory, glory of eternity.
An dem Tag, als man Menschen zählte, wurde Gott zum Menschensohn;
Dass sein Name in jeder Zählung genannt wird, war sein Plan.
Gott, der Herr der ganzen Schöpfung wird in Demut zum Geschöpf;
Er, dessen Gestalt kein Mensch je sah, hat heute ein menschliches Gesicht.
Als Davids Stern am sternenübersäten östlichen Himmel aufging,
Kamen Könige, um Christus, dem höchsten Herrn, Ehre zu erweisen.
Doch nicht alle, denn da!, es schallt durch die Straßen ein ängstlicher Schrei,
Denn ein König, der nicht anbeten will, hat befohlen, dass Christus sterben muss.
Doch es ist Weihnacht, und wir grüßen ihn, der zur Rettung zu uns kam;
Denn der Herr unserer Errettung blieb kein Gefangener des Grabes.
Aus Ägypten kam der Retter, um des Menschen Emmanuel zu sein;
Weihnachten leuchtet im Glanz von Ostern, der Herrlichkeit der Ewigkeit.66
Zusammenfassung: Der Kindermord des Herodes, Simeon und Hanna
Zu diesen Texten lassen sich vier Punkte festhalten:
1. Anfang und Ende des Lebens Jesu sind von unaussprechlicher Brutalität gekennzeichnet. Sein Wirken geschah in und an einer Welt voller Gewalt.
2. Matthäus möchte seinen Lesern Jesus als den neuen Mose vor Augen führen, der gekommen ist, um sein Volk zu befreien. Daher zieht er eine Parallele zwischen der Geburt Moses und der Geburt Jesu, indem er vom Mord an den Unschuldigen berichtet.
3. In Jesu Dienst spielen sowohl Männer als auch Frauen eine wichtige Rolle. Diese Zuwendung zur gesamten Menschheit taucht in den Geburtsgeschichten dreimal auf.
4. Maria wird als Vorbild für Nachfolge dargestellt. Durch ihr Leid trägt sie dazu bei, das Böse bloßzustellen, das der Erlösung bedarf. Ihre Beteiligung daran wird in den Worten Simeons vorausgesagt.
ZWEITER TEIL |
Die Seligpreisungen |
5
DIE SELIGPREISUNGEN – TEIL I
MATTHÄUS 5,1-5
In den Seligpreisungen wird der Leser mit einfachen Worten vor kurze Aussagen von tiefer Bedeutung gestellt. Ziel dieses Kapitels ist es, einen Teil dieser Bedeutung zu entdecken.
Das Matthäusevangelium enthält eine Sammlung der Aussprüche Jesu, die „Die Bergpredigt“ genannt werden (Mt 5–7). Eine ähnliche, aber kürzere Sammlung erscheint im Lukasevangelium und heißt traditionell „Die Feldrede“ (Lk 6,17-49). Dieses Kapitel kann zwar keinen ausführlichen Vergleich der beiden Texte leisten, doch beiläufig soll auf den Hauptunterschied hingewiesen werden. Lukas gibt vier positive Seligpreisungen wieder („Glückselig die …; denn …“), denen entsprechende negative Aussagen gegenübergestellt werden („Wehe euch …, denn …“). Die rhetorische Balance in der Darstellung ist in Abbildung 5.1 (siehe nächste Seite) skizziert.67
Die letzten vier Zeilenpaare (5-8) sind die Umkehrung der ersten vier (1-4), und sie sind in einem Stufenparallelismus miteinander verbunden. Das heißt, einer Seligpreisung für die Armen (1) ist ein Weheruf für die Reichen (5) gegenübergestellt und so weiter. Das vierte Aussagenpaar enthält in der Mitte zusätzliches Material und lässt somit eine Art „Sandwich“ entstehen. Dieses Material in (4) ist mit viel Sorgfalt zusammengestellt. Es gibt sieben Teilsätze, deren anfängliche drei Negativaussagen mit den drei Positivaussagen am Ende zusammengehören. Der Höhepunkt in der Mitte ist der einzige christologische Bezug im ganzen Abschnitt.
Matthäus bietet eine Aufzählung von neun Seligpreisungen, doch keine entsprechenden Negativaussagen. Er nennt die gleichen vier Seligpreisungen, die auch bei Lukas erscheinen, sowie fünf weitere, die bei Lukas nicht zu finden sind. Die gesamten Seligpreisungen bei Matthäus sind in Abbildung 5.2 (siehe Seite 83)