Wehe mir, denn ich bin verloren.
Denn ein Mann mit unreinen Lippen bin ich,
und mitten in einem Volk mit unreinen Lippen wohne ich.
Denn meine Augen haben den König,
den HERRN der Heerscharen, gesehen.
Jesaja 6,5
Jesaja bringt daraufhin kein Opfer, durch das er sich reinigen und den Weg zum heiligen Gott eröffnen könnte. Vielmehr schickt Gott, als Jesaja über seine Unreinheit klagt, einen Engel, der eine brennende Kohle vom Opferaltar nimmt, um Jesajas Lippen zu reinigen. Dann fragt Gott: „Wen soll ich senden, und wer wird für uns gehen?“ Und Jesaja antwortet: „Hier bin ich, sende mich!“ Dieser Text zeigt eine wichtige Reihenfolge auf:
1. Jesaja sieht, wie Gott seine Heiligkeit zeigt.
2. Jesaja, der sich plötzlich seines Mangels an Heiligkeit bewusst ist, bekennt seine Unreinheit.
3. Gott schickt einen Engel, der ihn mit Feuer vom Opferaltar reinigt.
4. Nachdem Jesaja gereinigt ist, fordert Gott ihn mit der Frage heraus: „Wen soll ich senden?“
5. Der gereinigte Prophet antwortet: „Hier bin ich, sende mich!“
Im Vaterunser bittet der Glaubende mit den Worten „Dein Name werde geheiligt“ um eine Demonstration der Heiligkeit Gottes. Das heißt, der Beter meint: „Möge Gott erneut seine Heiligkeit zeigen.“ Das wiederum bringt die Bereitschaft zum Ausdruck, sich auf Jesajas dramatische Erfahrung einzulassen.
Doch wie bei Hesekiel zu lesen war, sehen wir auch die Größe von Gottes mächtigem, rettendem Handeln in der Geschichte als Ausdruck seiner Heiligkeit. Jesaja, alleine im Tempel, erhält gleichzeitig eine Vision dieser Heiligkeit. Sowohl Jesajas individuelle Erfahrung als auch die weitreichenden Aussagen Hesekiels stehen hinter dem Vaterunser.
Damit stellt sich die Frage nach dem scheinbar scharfen Gegensatz, der in den ersten beiden Anfangssätzen des Vaterunsers liegt. Im ersten Satz stellt Jesus Gott als liebenden Vater vor. Andererseits ist Gott heilig, und diese Heiligkeit verlangt Reinheit, sprich: Gerechtigkeit. Angesichts dieser Heiligkeit spüren wir unsere eigene Unreinheit, so wie Israels Sünde Gottes Heiligkeit entehrte.
Wie lassen sich Liebe und Heiligkeit miteinander vereinbaren? Erstere zieht uns zu Gott, während Letztere uns – wie Jesaja – dazu bringt, uns zurückzuziehen.
Lassen sich Liebe und Heiligkeit miteinander vereinbaren?
Wie kann Gott im Umgang mit Sündern gleichzeitig Liebe und Heiligkeit sein? Liebe, die gern vergeben möchte, und Heiligkeit, die ein Maß an Gerechtigkeit verlangt, ohne dass zwangsläufig Gericht eintritt? Die Geschichte des Propheten Hosea hilft uns, die Spannung zwischen diesen beiden Aspekten von Gottes Wesen zu klären.
Gott trägt Hosea auf, eine Frau namens Gomer zu heiraten, die offenbar unmoralisch lebte (Hos 1,2). Hosea heiratet sie und drei Kinder werden geboren. Doch Hosea entdeckt, dass er nicht der Vater der letzten beiden Kinder ist. Kurz darauf verlässt Gomer ihn und wird Prostituierte, vermutlich im Baalstempel. Bald ist sie für den Baalskult nicht mehr zu gebrauchen und Hosea findet sie, als sie verkauft werden soll. Seltsamerweise kauft er sie zurück und nimmt sie mit zu sich nach Hause.
Um seinen Bund mit ihr zu erneuern, erkennt Hosea, dass in ihrer Beziehung die großen Prinzipien von Gerechtigkeit und Recht herrschen müssen. Gomers Verhalten der Vergangenheit kann und darf sich nicht wiederholen. Doch das Recht verlangt, dass sie für ihre sexuellen Vergehen zu Tode gesteinigt werden muss. Andererseits möchte Hosea mit ihr in einer Beziehung voller Liebe und Erbarmen leben, in der die Vergangenheit vergessen ist und ein neues Leben begonnen hat. Hosea sagt Gomer gegenüber, was sie beide benötigen:
Und ich will dich mir verloben in Ewigkeit,
und ich will dich mir verloben in Gerechtigkeit und in Recht
und in Gnade und in Erbarmen […]
Hosea 2,21 (Hervorhebung von mir)
Wie können angesichts dessen, was Gomer getan hat, beide Seiten dieser Gleichung aufgelöst werden? Soll Hosea Gerechtigkeit und Recht in den Vordergrund stellen oder Liebe und Erbarmen? Hosea erzählt seine persönliche Geschichte, weil er in ihr ein Bild für die Beziehung zwischen Gott und seinem Volk sieht. Hosea leidet unter der zurückgewiesenen Liebe und entdeckt dabei, wie Gott im Umgang mit seinem eigensinnigen Volk leidet. Kuhn schreibt:
So nimmt bei Hosea der Heiligkeitsbegriff als Vollinhalt der Göttlichkeit den Liebesgedanken in sich auf, eine einzigartige Erkenntnis im AT, die nicht wieder erreicht worden ist. Wie er in seinem grausam zerschlagenen Lebensglück die Liebe als die unzerstörbare Macht erkannt hat, die sich auch der verlorenen Frau rettend zuwendet, so muss Jahwes Heiligkeit als Inbegriff seines Wesens die schöpferische Liebe enthalten, die zwar tötet, aber neu belebt (vgl. [Hos] 6,1 f).108
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