Jesus war kein Europäer. Kenneth E. Bailey. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Kenneth E. Bailey
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783417228694
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      Die meiste Zeit seines Lebens war Herodes ein persönlicher Freund von Marcus Antonius gewesen und hatte ihn gegen Octavian unterstützt. Wie würde er nun mit dem neuen Kaiser zurechtkommen? Herodes erschien ohne Krone vor Octavian und bekannte mutig, wie er den Feind des Kaisers unterstützt hatte. Er gab außerdem zu, selbst in der Niederlage Antonius noch treu geblieben zu sein. Herodes krönte seine Ausführungen mit den Worten: „Was ich von dir erbitte, ist zu bedenken nicht wessen Freund, sondern welch ein guter Freund ich war.“62 Der Kaiser entschied, dass er Herodes vertrauen konnte, und wies ihn an, seine Krone wieder aufzusetzen. Bei seiner Rückkehr nach Palästina war Herodes’ Thron sicherer als zuvor.

      Doch mit den Jahren zerfiel Herodes’ Persönlichkeit zusehends. Insgesamt heiratete er zehn Frauen. Söhne waren in seinen Augen häufig politische Rivalen, und zwei seiner Lieblingssöhne wurden auf seinen Befehl hin in einer Festung in Samaria erdrosselt. Später bekam er Zweifel an der politischen Loyalität seiner Lieblingsfrau Mariamne und ließ sie umbringen. Danach sah man ihn oft durch den Palast laufen und ihren Namen rufen, und häufig schickte er Diener los, um sie zu holen. Als sie nicht auftauchte, ließ er die Diener verprügeln.

      Herodes war brillant und brutal. Gegen Ende seines Lebens litt er an mehreren schweren, schmerzhaften Krankheiten. In seinen allerletzten Tagen ließ er den Kronprinzen verhaften und warf ihn in den Kerker seines Palastes. Als alter Mann wurde er von Schmerzen geplagt und versuchte, seinem eigenen Leben ein Ende zu setzen, woran er aber von einem Wachposten gehindert wurde. Kurzzeitig machte sich Verwirrung breit. Im Palast kursierte die Nachricht, der König sei tot. Als der Kronprinz davon erfuhr, forderte er seine Freilassung, um die Macht zu ergreifen. Herodes überlebte den Selbstmordversuch und ordnete den Tod des besagten Kronprinzen an. Fünf Tage später starb Herodes selbst. Sein letzter Befehl an seine Truppen lautete, Tausende namhafte Menschen überall im Land zu verhaften und sie im Stadion von Jericho gefangen zu halten. Bei Herodes’ Tod sollten sie hingerichtet werden, damit man auch im Land trauerte, wenn der König starb. Herodes wusste nur allzu gut, dass niemand um ihn weinen würde. Glücklicherweise wurde der Befehl nicht ausgeführt. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass Herodes als alter Mann den Kindermord von Bethlehem anordnen konnte. Es war eine brutale Welt, in die Jesus hineingeboren wurde, und Herodes war durch und durch ein Mann seiner Zeit.63

      Wenn man sich an Jesu Geburt erinnert, erzählt man ihre Geschichte oft in weichen Farben und mit schöner Hintergrundmusik. Der Mord an den Unschuldigen findet nie einen Platz im Krippenspiel, ganz gleich in welcher Kirche. Ich kann mich nicht erinnern, dass diese Geschichte je in einem Weihnachtsgottesdienst vorgelesen wurde. Die Christen erwarten – und bekommen – in der Regel eine Geschichte, die sich auf fröhliche Engel, aufgeregte Hirten und großzügige Weise beschränkt. Die verlesenen Texte sind voller Friedensverheißungen, durchsetzt mit Bildern eines hübschen Kindes, einer heiligen Mutter, eines mutigen Vaters und einiger harmloser Tiere. Es scheint eine Verschwörung des Schweigens zu geben, die sich weigert, das Massaker zu erwähnen. Warum nahm Matthäus es überhaupt in sein Evangelium auf?

      Matthäus habe Jesus als neuen Mose darstellen wollen, wird häufig als Erklärung angeführt. Mose wurde mitten in einem „Mord an Unschuldigen“ geboren, nämlich zu der Zeit, als der Pharao die Tötung aller männlichen hebräischen Säuglinge angeordnet hatte (2Mo 1,8-22). In gleicher Weise erzählte Matthäus eine parallele Geschichte über Jesus.64 Doch möglicherweise gab es noch einen weiteren wichtigen Grund.

      Die Menschen, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Nahen Osten lebten (der Autor dieses Buches eingeschlossen), erlebten dort häufig Kriegssituationen. Im Libanon beispielsweise gab es über einen Zeitraum von fünfunddreißig Jahren sieben Kriege. Einer davon dauerte siebzehn Jahre. Andere waren kurz, aber brutal. Menschen sahen, wie Freunde und Verwandte von Kugeln und Sprengkörpern getötet wurden, und erlebten das Grauen moderner Kriege.

      Wie behalten Menschen unter solchen Umständen ihren Glauben? Eine Antwort ist, dass sie sich sowohl an das erste Weihnachten als auch an den ersten Karfreitag erinnerten. Im Zusammenhang mit Jesu Geburt fand ein sinnloses, blutiges Massaker statt. Wer diese Geschichte liest, wird nicht mehr unvorbereitet sein, wenn sich die menschliche Fähigkeit zu Gräueltaten ihr hässliches Gesicht wieder am Kreuz zeigt. Am Anfang und am Ende seines Evangeliums zeigt Matthäus die Abgründe des Bösen auf, das Jesus durch sein Kommen aus der Welt schaffen sollte. Diese Geschichte stärkt beim Leser das Bewusstsein für Gottes Bereitschaft, sich in der Menschwerdung völlig verletzlich zu machen. Wenn das Evangelium sich in einer Welt ausbreiten kann, die ein Massaker an Unschuldigen hervorbringt, kann es sich überall ausbreiten. Aus diesem Bewusstsein können Leser der Evangelien zu allen Zeiten Mut schöpfen.

      Es gibt noch eine andere Facette der Geschichte, die oft übersehen wird. Als Säugling wurde Jesus im Tempel Simeon vorgestellt (Lk 2,25-32). Die Aussage des ehrwürdigen Simeons über Jesus ist überwältigend: Dieses Kind sei gekommen, um Israel und die nicht jüdischen Völker zu retten. Dann tritt plötzlich und unerwartet eine alte Frau namens Hanna auf und „lobte Gott und redete von ihm [Jesus] zu allen, die auf die Erlösung Jerusalems warteten“ (Lk 2,38). Offenbar konnte Lukas keinen Zeugen finden, der die genauen Worte Hannas berichtete. Wir haben nichts weiter als einen Hinweis auf die Hoffnungen ihrer Zuhörer. Klar ist, dass Lukas beschloss, ihr keine Worte in den Mund zu legen. Warum wird sie also überhaupt erwähnt?

      In seinem ganzen Evangelium betont Lukas immer wieder einen beachtenswerten Aspekt: Er macht deutlich, dass dieser Retter für Männer und Frauen gekommen ist. Eine sorgfältige Untersuchung des Lukasevangeliums ergibt mindestens siebenundzwanzig Geschichtenpaare, bei denen ein Mann und in der parallelen Erzählung eine Frau die tragende Rolle spielt.65

      Darunter befinden sich das Gleichnis vom guten Hirten und dem verlorenen Schaf auf der einen Seite und das Gleichnis einer guten Frau mit einer verlorenen Münze auf der anderen (Lk 15,3-10). Das erste stellt ein Beispiel aus der Männerwelt, das zweite aus der Erfahrungswelt der Frauen dar. Weiterhin lesen wir die Geschichten des Bauern, der ein Senfkorn in seinem Garten aussät, sowie von der Frau, die Sauerteig unter ihren Brotteig mengt (Lk 13,18-21). Auch hier stammt das eine Beispiel aus der Erfahrungswelt der Männer und das andere aus dem Alltag einer Frau. So enthalten auch die Geschichten um Jesu Geburt, die Lukas aufzeichnete, drei solche Paare:

      1. Gabriel erscheint zwei Menschen: Zacharias und Maria.

      2. Zwei Lieder werden gesungen: eines von Zacharias und das andere von Maria.

      3. Im Tempel gibt es zwei Zeugen: Simeon und Hanna bezeugen den Erlösungsplan Gottes, der sich durch Jesus erfüllt.

      Zugegebenermaßen wird Simeon mehr Aufmerksamkeit gewidmet als Hanna. Doch wenn man Zacharias und Maria vergleicht, spielt Maria die prominentere Rolle. Ihre Reaktion auf die gute Nachricht von Gabriel besitzt eine höhere Qualität als die von Zacharias. Die Verheißung eines Sohnes für Zacharias schenkte ihm die Erfüllung seines Traumes, die ihn jedoch nichts kostete. Trotzdem glaubte er diese gute Nachricht nicht, weil seine Frau über das gebärfähige Alter hinaus war. Infolgedessen sah er sich einem zweiten Wunder gegenüber: Bis zur Geburt des Kindes blieb er stumm.

      Im Gegensatz dazu erfuhr Maria, dass sie durch Gottes Wirken einen Sohn zur Welt bringen würde. Anders als bei Zacharias hätte das Geschenk, das ihr angeboten wurde, ihren Tod bedeuten können. Doch im Gegensatz zu Zacharias akzeptierte sie diesen Preis der Nachfolge still und antwortete demütig: „Es geschehe mir nach deinem Wort.“ Dann wurde auch sie Zeugin eines zweiten Eingreifens Gottes. Doch ihr zweites Wunder bestand in der guten Nachricht, dass ihre Cousine ein Kind erwartete. Statt eines Gerichtswunders wurde sie Zeugin eines Segenswunders.

      Simeons Nunc dimittis (wie man sein Lobgebet nennt) enthält eine wunderbare Verheißung an Maria, verbunden mit einer Warnung. Er sagt zu ihr:

      „Siehe,