Jesus war kein Europäer. Kenneth E. Bailey. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Kenneth E. Bailey
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783417228694
Скачать книгу
und „deine Tore“. Offensichtlich hatte Jesaja eine Vision von Jerusalem und den wunderbaren Ereignissen, die der Stadt widerfahren würden. Doch aus dieser herrlichen Vision wurde keine Wirklichkeit. Das Volk sah kein großes Licht die Stadt umstrahlen. Es kamen auch keine wohlhabenden arabischen Stammesführer aus Midian, Efa und Saba mit Gold und Weihrauch. Wegen des gewaltbereiten und unsicheren politischen Klimas in den Jahrhunderten vor Jesu Geburt standen die Tore nicht Tag und Nacht offen (s. V. 11). Daher fragt sich der Leser zu Recht, ob die Geschichten um Jesu Geburt etwas mit den wunderbaren Verheißungen aus Jesaja zu tun haben?

      Matthäus und Lukas waren sicherlich mit dem Text vertraut. Die Evangelienschreiber hatten viel mehr Informationen über Jesu Leben, als sie auf einer Schriftrolle niederschreiben konnten. Johannes sagt sogar ausdrücklich, dass er eine Auswahl getroffen hat und „wenn diese [Taten Jesu] alle einzeln niedergeschrieben würden, so würde, scheint mir, selbst die Welt die geschriebenen Bücher nicht fassen“ (Joh 21,25). Auf welcher Grundlage wählten Matthäus und Lukas die Geschichten über Jesu Geburt aus?

      Obwohl die herrlichen Ereignisse zu Ehren Jerusalems, die Jesaja vorausgesehen hatte, nicht eintrafen, sahen die Evangelienschreiber sie in Jesu Geburt erfüllt. Um das Kind leuchtete ein großes Licht und die Herrlichkeit des Herrn erschien. Zu dem Kind kamen arabische Weise auf Kamelen aus der Wüste und brachten Gold und Weihrauch. Hirten besuchten das Kind und nicht die Stadt. Die großen Hoffnungen für die Stadt wurden auf das Kind in der Krippe übertragen. Die „Herrlichkeit des Herrn umleuchtete“ die Hirten, als der Engel ihnen von der Geburt des Kindes berichtete. Diese Übertragung von der Stadt auf das Kind ist von Bedeutung.

      Die Geburtsgeschichten „entzionisieren“ die Überlieferung. Die Erfüllung der Hoffnungen und Erwartungen für die Stadt wird in der Geburt des Kindes gesehen. Dem irdischen Jerusalem wird sein Absolutheitsstatus entzogen. Die neue Gemeinschaft, die sich um das Kind bilden sollte, würde mit dem irischen Dichter Joseph Plunkett mitfühlen können, der schrieb:

      I see his blood upon the rose –

      And in the stars the glory of his eyes.

      His body gleams amid eternal snows,

      His tears fall from the skies.

      I see his face in every flower;

      The thunder and the singing of the birds

      Are but his voice;

      And carven by his power,

      Rocks are his written words.

      All pathways by his feet are worn;

      His strong heart stirs the ever-beating seas.

      His crown of thorns is twined with every thorn.

      His cross is every tree.

      Ich sehe sein Blut auf der Rose

      und in den Sternen die Herrlichkeit seiner Augen.

      Inmitten von ewigem Schnee erstrahlt sein Leib,

      vom Himmel fallen seine Tränen.

      Ich sehe sein Gesicht in jeder Blume,

      Donner und Vogelgesang

      sind nur seine Stimme.

      Von seiner Macht gemeißelt

      sind Felsen seine niedergeschriebenen Worte.

      Seine Füße durchwanderten alle Wege,

      sein starkes Herz ist der ewige Pulsschlag des Meeres.

      In jeden Dorn ist seine Dornenkrone gewunden

      und jeder Baum ist sein Kreuz. 59

      Es gibt keinen besonderen Platz, wo Jesus einzig und allein zu finden ist. Heilige Geschichte ist wichtiger als heilige Orte. Das irdische Jerusalem ist – zu Recht – eine Pilgerstätte, ein Ort der Anbetung und der Besinnung für alle drei abrahamitischen Religionen und sollte ihnen gleichermaßen gehören. Doch die Nachfolger des Christuskindes wissen, dass nur das himmlische Jerusalem wirklich von Bedeutung ist, das als Geschenk Gottes am Ende der Zeit vom Himmel herabkommt (Offb 21). Um die irdische Stadt sollten keine Kriege geführt und sollte kein Blut vergossen werden, denn Lukas verdeutlicht seinen Lesern, dass die Herrlichkeit des Herrn nicht über der Stadt aufging, sondern über dem Kind.

      Für dieses Kapitel lässt sich Folgendes zusammenfassen:

      1. Unterdrücker und Unterdrückte sind Sünder und brauchen beide die Gnade des neugeborenen Erretters.

      2. Leiden bringt keine sündlosen Menschen hervor.

      3. Der Prophet braucht Mut, um dem unterdrückten Volk seine Sünden und sein Angewiesensein auf Gnade vor Augen zu führen.

      4. Jesaja verhieß der Stadt Jerusalem besonderen Segen: Araber treffen mit Geschenken ein und Hirten kommen. Ein großes Licht und die Herrlichkeit des Herrn erstrahlt über Jerusalem. Die Evangelienschreiber sahen diese Verheißungen in der Geburt eines Kindes erfüllt. „Die Hoffnungen und Ängste all dieser Jahre“ (The hopes and fears of all the years), wie Phillips Brooks es in seinem bekannten Weihnachtslied „O little town of Bethlehem“ ausdrückt, werden übertragen – von Jerusalem auf ein in Bethlehem geborenes Kind.

      5. Jüdische Hirten und nicht jüdische Araber kommen zur Anbetung des neugeborenen Kindes in der Krippe zusammen.

      4

      Herodes’ Gräueltaten, Simeon und Hanna

      MATTHÄUS 2,13-18; LUKAS 2,22-38

      Manche Geschichten sollte man besser nicht im Fernsehen zeigen. Der Kindermord von Bethlehem gehört für mich dazu (Mt 2,16-18). Die Szene ist einfach zu brutal für den Zuschauer – auch heute noch. Aus der Geschichte ergeben sich zwei Fragen: Warum kam es überhaupt zu diesem Ereignis, und warum hat Matthäus eine so unsäglich abstoßende Geschichte in sein Evangelium aufgenommen?

      Herodes war eine außerordentlich komplexe Persönlichkeit. In ethnischer Hinsicht war er Araber. Sein Vater stammte aus einem arabischen Stamm im südlichen Teil des Heiligen Landes, aus einer Gegend namens Idumäa. Seine Mutter stammte aus Petra, der Hauptstadt des Nabatäerreichs – ein arabisches Königreich, das im ersten Jahrhundert den nördlichen Teil Arabiens bewohnte. Zu Herodes’ Geschwistern gehörten Phasael, Joseph und Pheroras sowie seine Schwester Salome. Das einzige Kind in der Familie, das einen griechischen Namen trug, war Herodes selbst.60

      Herodes gehörte der jüdischen Religion an. Im zweiten Jahrhundert v. Chr. hatte der jüdische Herrscher Johannes Hyrkan I. die Idumäer unterworfen und unter Androhung der Todesstrafe zum Judentum zwangsbekehrt. Herodes’ Vater Antipater war 47 v. Chr. zum Statthalter der Provinz Judäa ernannt worden. Das machte Herodes zu einem „Juden“. Kulturell betrachtet war Herodes jedoch Grieche. Zu jener Zeit hatte sich die griechische Kultur in Palästina weithin ausgebreitet und Griechisch war internationale Verkehrssprache. Herodes, dessen Muttersprache Griechisch war, unternahm mehrere Versuche, Jerusalem zu einer griechischen Stadt umzuformen.61

      Politisch betrachtet war Herodes Römer. In allen großen Konflikten während seiner Regierungszeit stellte er sich auf die Seite Roms. Von der Herkunft Araber, religiös Jude, kulturell Grieche und politisch ein Römer – Herodes war eine vielschichtige Persönlichkeit. In seinen jüngeren Jahren wurde er als gut aussehend und von kräftigem Körperbau beschrieben. In zehn verschiedenen Kriegen führte er seine Armee persönlich auf das Schlachtfeld. Zu den Höhepunkten seiner Regierungszeit gehört, dass er sich im Machtkampf um das Römische Reich gegen Octavian auf die Seite von Marcus Antonius und Kleopatra stellte. Nachdem er Antonius vernichtend geschlagen hatte, reiste Octavian (der spätere Kaiser Augustus) nach Rhodos, um seinen