„Und sie hat es zugegeben?“
„Ja. Und als ich sie dann noch einmal auf die seltsamen Sätze darin angesprochen habe, hat sie etwas gesagt wie: Es ist für alle besser, wenn ich gewinne oder so etwas.“
„Was sollen wir jetzt tun?“, fragte Ailina.
„Ich weiß es nicht“, gestand Felicitas. „Aber du musst mir versprechen, dass du es niemandem erzählst. Das mit dem Buch, meine ich, und all das andere auch. Ich habe Angst davor, wie Meda ... reagiert, wenn sie erfährt, dass ich darüber geredet habe.“
„Du meinst also nicht, dass wir mit einem Lehrer darüber sprechen sollten?“
„Nein.“ Felicitas schüttelte den Kopf. „Dazu habe ich ...“, sie wunderte sich darüber, wie viel Überwindung es sie kostete, die Worte auszusprechen, „zu viel Angst vor Meda. Und nicht nur um mich.“ Ihr Blick wanderte zu dem Foto von Sandra und ihr, das noch immer auf ihrem Nachttisch lag.
„Meda wusste, dass ich noch eine zweite Schwester habe, die längst tot ist. Ich will nicht erfahren, was sie sonst noch alles über mich weiß. Und vor allem nicht, wozu sie fähig sein kann. Du musst mir versprechen, dass du alles, was ich dir erzählt habe, für dich behältst! Versprich es mir jetzt gleich!“, drängte Felicitas.
Ailina hob die Hände zum Schwur. „Ich verspreche es.“
„Danke.“
Plötzlich fiel die Anspannung von Felicitas ab und sie fühlte sich nur noch todmüde und erschöpft.
Ailina warf einen Blick auf die Leuchtziffern, die auf ihrem Handydisplay blinkten. „Wir sollten noch ein wenig schlafen.“
Felicitas nickte, legte sich hin und kuschelte sich in ihre Decke. Sie roch seltsam vertraut nach Geborgenheit, Wärme und ein bisschen nach Waschmittel.
Pünktlich um zehn vor neun klingelte Ailinas Wecker. Die Sonne ging gerade unter und tauchte das kleine Zimmer in ein feuriges rot-orangefarbenes Licht.
Als Felicitas gemeinsam mit Ailina den großen Saal betrat, waren alle anderen bereits dort und frühstückten. Trotzdem konnten sie Jessy schon von Weitem hören. „Warte.“ Felicitas hielt Ailina am Arm fest. Sie hatte plötzlich Angst vor all den Fragen, die ihre Mitschüler ihr vermutlich gleich stellen würden.
„Sie glauben, dass du krank warst. Schon vergessen?“ Ailina lächelte sie beruhigend an, doch ihre Augen blieben ernst.
Wie zur Bestätigung sprang Jessy auf und eilte auf die Freundinnen zu. „Felicitas! Geht es dir wieder besser?“
„Äh ...“ Bevor sie antworten konnte, umarmte Jessy sie bereits so fest, dass sie kaum noch Luft bekam. „Ich ...“, stammelte Felicitas überrascht, „ich hatte doch nur ...“ Sie warf Ailina einen Hilfe suchenden Blick zu. Als diese nur die Schultern zuckte, redete Felicitas schnell weiter. „Ich hatte doch nur leichtes Fieber und keine lebensgefährliche Krankheit!“
„Na dann“, Jessy löste sich von ihr und grinste sie an, „kann ich die Nussschnecke, die ich für dich aufgehoben habe, ja selber essen.“
„Du kannst sie mir geben!“, mischte sich jetzt auch Ailina ein.
„Dir? Du hattest doch auch keine lebensgefährliche Krankheit.“
Während Felicitas ihren Freundinnen zusah, wie sie sich neckend um die Nussschnecke stritten, überkam sie auf einmal ein schlechtes Gewissen, weil sie gedacht hatte, sie so einfach zurücklassen zu können.
In der ersten Unterrichtsstunde hatten sie Gefühl bei Amitola. Nachdem sie die Grundlagen – dazu zählte zum Beispiel das Abwehren von fremden Gefühlen - ein wenig wiederholt hatten, verkündete die Lehrerin, dass sie heute eine Stunde zu einem ganz besonders wichtigen Aspekt der Gefühle einfügen wollte. Nämlich dem Nayeli-Band, auch bekannt als das Band der Gefühle.
„Dieses Nayeli-Band verbindet euch mit den Menschen, die euch etwas bedeuten, mit den Menschen, die ihr liebt. Mithilfe dieses Bandes könnt ihr zu diesen Personen finden, ganz egal, wo sie gerade sind“, erklärte Amitola.
„Das ist doch völlig unmöglich!“ Die Worte waren ausgesprochen, bevor Felicitas sie zurückhalten konnte. Sie erinnerte sich noch zu genau an die Panik gestern im Wald, als ihr bewusst geworden war, dass sie sich verirrt hatte. Würde dieses Band tatsächlich existieren, hätte sie doch ohne Schwierigkeiten den Weg zu ihrer Familie finden müssen.
„Nein, das ist es nicht“, widersprach Amitola vollkommen ernst. „Das Nayeli-Band reicht sogar noch viel weiter: Werden einem Menschen, den ihr liebt, Schmerzen zugefügt, seid ihr in der Lage, das zu spüren. Natürlich auch, wenn er irgendein anderes starkes Gefühl erlebt.“ Ein Blick in die Gesichter ihrer Schüler machte Amitola deutlich, dass sie das noch genauer erklären musste. „Sicherlich kennt jeder von euch Personen, die ihm besonders wichtig sind. Personen, die tief in euren Herzen verankert sind. Wenn sie mit euch in Streit geraten oder gar sterben, tut es weh.“
Sie redete jetzt langsamer und überdeutlich, als versuchte sie, die Theorien der Wandler Begriffsstutzigen deutlich zu machen. „Mit diesen Personen verbinden euch gemeinsame Erlebnisse, Gefühle und so weiter. Und eben aufgrund dieser Gemeinsamkeiten entsteht das Nayeli-Band – ein Band, das euch stärker mit diesen Personen verbindet, als ihr vielleicht annehmt. Es ist so stark, dass sogar normale Menschen in der Lage sind, es zu fühlen.“
Felicitas bemühte sich, der Lehrerin zu folgen und jedes ihrer Worte mitzubekommen. Denn ihr war schnell klar geworden, dass dieses Band der Gefühle ihr vielleicht eines Tages den Weg zurück zu ihrer Familie zeigen konnte.
Die folgenden Tage vergingen schnell und ohne Zwischenfälle. Felicitas mied die Bibliothek und sprach mit niemandem mehr über ihren kurzen Ausflug in den Wald. Sie wusste nicht, warum, aber sie fühlte sich jetzt hier, in dem alten Schloss, viel wohler als früher, obwohl sie natürlich weiterhin oft an Sandra und ihre Familie dachte. Und an Aranck.
Manchmal stand sie am Fenster und beobachtete den Schnee, der in dicken, weißen Flocken vom Himmel fiel, und ertappte sich dabei, wie sie sich fragte, ob Aranck diese kalte Jahreszeit wohl etwas ausmachte. Ganz alleine in seiner Hütte im Wald. Er würde mehr Brennholz brauchen. Aber wo sollte er das herbekommen? Das Holz im Wald war jetzt sicherlich zu feucht, um damit ein Feuer zu entzünden.
Dann schüttelte sie jedes Mal den Kopf, um diese Gedanken loszuwerden, und versuchte, an etwas anderes zu denken. An ihren Unterricht zum Beispiel oder daran, dass Mingan Ailina und ihr versprochen hatte, sie bald die Anevay-Techniken zu lehren. Aber irgendwann schob sich dann doch wieder Aranck in ihre Gedanken. Sie machte sich Sorgen um den Jungen und vermisste ihn. Ihre starken Gefühle für ihn machten ihr Angst, schließlich hatte sie gerade einmal ein paar Stunden mit Aranck verbracht. Und die waren schon mehr als zwei Monate her.
***
Der hagere, schwarzhaarige Mann tigerte unruhig in der großen Höhle hin und her. Die Fackeln, die in eisernen Haltern an den Wänden befestigt waren, ließen flackernde Schatten über die zerklüfteten Wände tanzen und entlockten dem Mann trotz seiner quälenden Gedanken ein Lächeln.
Hakan hatten sie ihn genannt. Feuer.
Das Klackern von Absätzen hallte durch die Höhle und Hakan fuhr herum. Die Seherin trat aus einem kleinen Seitengang heraus und blieb einige Meter von ihrem Meister entfernt stehen.
„Ich bin alle weiteren Möglichkeiten durchgegangen, aber mir fällt nichts mehr ein.“ Hakan blickte die Seherin resigniert an. Diese erwiderte seinen Blick nur mit unergründlicher Miene.
„Vielleicht muss dir auch gar nichts mehr einfallen. Vielleicht geht dein Plan doch noch auf“, sagte sie schließlich.
„Wie kannst du dir da so sicher sein? Wir warten schon seit fast drei Monaten!“
Die Augen der Seherin blitzten. „Wag es nicht, meine Macht