Die Chroniken der Wandler. Laura Schmolke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Laura Schmolke
Издательство: Bookwire
Серия: Die Chroniken der Wandler
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783960741732
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Gedanken vertieft, dass sie gegen Ailina prallte, als diese plötzlich vor ihrem Zimmer stehen blieb.

      „Was ...“ Die Worte blieben Felicitas im Mund stecken, als sie an ihrer Freundin vorbei in ihren Schlafraum starrte. Er sah aus, als hätte eine Bombe darin eingeschlagen: Ihre Taschen waren auf dem Boden ausgekippt, Ailinas Zeichnungen überall im Zimmer verteilt und sogar die Schränke geöffnet und anscheinend auch durchwühlt worden.

      „Was ist denn hier passiert?“

      Ailina antwortete nicht, sondern hastete in das Zimmer, plötzlich schien sie es furchtbar eilig zu haben.

      „Schau in den Schränken nach, ob etwas weggekommen ist!“, wies sie Felicitas an.

      Während Felicitas Ailina den Rücken zuwandte, um ein wenig Ordnung in ihre Klamotten und anderen wenigen Habseligkeiten zu bringen, stellte sie erleichtert fest, dass noch alles da war. Auch das Foto von Sandra und ihr lag noch unberührt auf ihrem Nachttisch. Und sogar ihr Portemonnaie lag auf dem Boden vor ihrem Bett. Als Felicitas hineinsah, merkte sie, dass noch alles Geld darin war.

      „Fehlt bei dir irgendetwas?“, fragte sie Ailina.

      Ihre Freundin kniete auf dem Boden und sammelte ihre Zeichnungen ein. Sie antwortete nicht sofort. Zögernd ließ Felicitas sich auf die Knie nieder und half Ailina, ihre Bilder einzusammeln. Eines lag unter dem Schreibtisch. Als Felicitas es darunter hervorangelte, kam sie nicht umhin, es anzustarren.

      „Das“, hauchte sie, „war der Unfall, nicht wahr?“

      „Ja“, antwortete Ailina tonlos. „Es sind Bilder, die mir nicht mehr aus dem Kopf gehen. Und ...“

      „Du musst sie irgendwo festhalten, damit du nicht verrückt wirst“, vollendete Felicitas den Satz ihrer Freundin. Sie erinnerte sich daran, dass Ailina ihr das schon einmal erklärt hatte.

      Jetzt hielt sie eines der besagten Bilder in den Händen. Und es war wunderschön – nein, es war fantastisch – auf eine ganz eigenartige Weise. Vorsichtig strich Felicitas mit den Fingerkuppen über die Farbe.

      „Feuer.“ Auf einmal saß Ailina neben ihr und sah ihr über die Schulter. „Überall war Feuer.“

      Dann schüttelte sie leicht den Kopf, als wollte sie diese Gedanken damit loswerden, und legte sich flach auf den Bauch, um ein weiteres Bild unter ihrem Bett hervorzuholen.

      Felicitas starrte noch immer wie gebannt auf Ailinas Zeichnung. Sie konnte das Feuer auch erkennen. Es war hell, gelb und orange und rot. Züngelte an den Seiten des Papiers empor und ging dann in tiefes Schwarz über. Auf dem Bild waren auch zwei Leute zu sehen - ein Mann, der das Lenkrad fest umklammert hielt, den Kopf gedreht hatte und Felicitas mit einem panischen, entsetzten Blick anstarrte, und eine Frau, die gar nicht wirklich zu begreifen schien, was gerade geschah.

      „Darf ich?“ Ailina wartete gar nicht erst auf eine Antwort, sondern nahm ihr das Bild einfach aus der Hand.

      „Fehlt bei dir irgendetwas?“, fragte Felicitas noch einmal.

      „Nichts Wichtiges“, murmelte Ailina. „Nur ... drei Bilder.“

      „Drei Bilder? Wieso sollte jemand deine Bilder klauen und mein Portemonnaie einfach achtlos auf dem Fußboden liegen lassen?“

      „Ich weiß nicht ...“

      „Was war denn drauf?“

      „Auf den Bildern? Nichts Besonderes.“ Ailina wirkte hilflos. „Nur ... weiße Krankenhauswände ... und auf einem ein junges Mädchen, das sich mit mir ein Zimmer geteilt hat.“ Dann schien sie sich wieder zu fangen. „Aber das ist doch egal, oder? Solange nicht mehr weggekommen ist ...“

      „Wir sollten das Ganze melden! Jemand ist in unser Zimmer eingedrungen, hat es total verwüstet und deine Bilder mitgenommen! Das gefällt mir nicht. Wenn Mingan oder Enapay ...“

      „Nein, Felicitas.“ Ailina sprach leise, aber bestimmt. „Ich möchte es nicht melden. Selbst wenn Mingan oder Enapay es wüssten, was könnten sie tun? Der Einbrecher war bereits hier und er weiß jetzt, dass das, was er suchte, nicht hier zu finden war.“

      „Er könnte jederzeit wiederkommen, um weiterzusuchen.“

      „Wonach denn?“, fragte Ailina und eine Spur Verzweiflung mischte sich in ihre Stimme.

      Hilflos zuckte Felicitas mit den Schultern und ließ ihren Blick durch das Zimmer schweifen. Den offenen Schubladen und Schränken nach zu urteilen, gab es keinen Ort, an dem der Einbrecher nicht nachgesehen hatte.

      „Ich weiß es nicht“, gab Felicitas zu. „Geld war es jedenfalls nicht.“

      Ailina nickte langsam. „Wir wissen weder wer es war noch was der Einbrecher gesucht hat. Nur dass er das, was auch immer er wollte, bei uns anscheinend nicht gefunden hat.“

      „Eben! Wir sollten es Enapay melden, dann kann er allen Bescheid geben, dass sie ihre Wertsachen ...“ Felicitas verstummte, als ihr erneut bewusst wurde, dass es hier nicht um Wertsachen ging.

      Ailina seufzte. „Ihre Wertsachen wegsperren sollen? Das bringt doch nichts, dein Portemonnaie lag offen auf dem Boden. Aber wenn du möchtest, rede ich mit Enapay. In einer Viertelstunde gibt es sowieso Abendessen. Und vorher“, fügte sie schnell hinzu, „sollten wir hier noch ein wenig aufräumen.“

      Während Felicitas neben ihrer Tasche in die Knie ging und die auf dem Boden verstreuten Kleidungsstücke, Bücher und CDs wieder einsammelte, fiel ihr auf einmal ein teilweise zerrissenes, liniertes Blatt Papier auf, das anscheinend aus ihrem Tagebuch gerutscht war. Obwohl sie schon seit Längerem nicht mehr in das kleine Büchlein mit dem goldenen Einband geschrieben hatte, hatte sie es einfach nicht über sich gebracht, es zurückzulassen. Das Büchlein, in dem sie so lange ihr ganzes Leben festgehalten hatte ...

      Vorsichtig faltete sie den herausgefallenen Zettel auseinander.

      Vielleicht sollte ich mich für dich freuen.

      Vielleicht sollte ich daran glauben, dass du jetzt bei Gott bist,

      an einem besseren Ort.

      Genau, wie Sandra es gesagt hat.

      Aber ich kann dich nicht loslassen.

      Wenn ich abends auf dem Balkon sitze,

      dann höre ich deine Stimme,

      und ich frage mich,

      was du wohl gefühlt hast,

      als dein Herz aufgehört hat zu schlagen.

      Vermisst du mich?

      Denkst du überhaupt jemals an mich?

      An Mama?

      An Papa?

      An Sandra?

      Bist du jetzt glücklich?

      Ich vermisse dich.

      Ich vermisse dich so sehr, dass es wehtut.

      Lange starrte Felicitas die Worte an. Blau auf Weiß. Tinte auf Papier. Sie konnte sich noch genau an jenen Nachmittag erinnern, an dem Sandra krank geworden war. Es war zwei Jahre nach Evas Tod gewesen. Ihre Mutter hatte gesagt, es sei nur eine Lungenentzündung und mit den richtigen Antibiotika würde Sandra schnell wieder gesund werden. Aber Felicitas hatte so furchtbare Angst um ihre kleine Schwester gehabt. Und auf einmal war der Tod von Eva wieder viel näher gewesen. Eines Abends, als sie eigentlich hätte schlafen sollen, war Felicitas auf den Balkon geschlichen und hatte dort dieses Gedicht geschrieben.

      Und jetzt hielt sie es wieder in der Hand. War das nicht ein merkwürdiger Zufall?

      Sie schüttelte den Kopf über ihre eigenen dummen Gedanken, während sie den Zettel wieder faltete, zurück in ihr Tagebuch schob und in den Tiefen ihrer Tasche versenkte.

      *