„Tut mir leid“, entschuldigte Felicitas sich noch einmal zerknirscht, bevor sie den Blick endlich hob und Aranck ansah.
Der Junge nickte langsam. Wieder fiel Felicitas auf, wie blass er war und wie dunkel seine Augen. Fast schwarz waren sie, wie ein See bei Nacht. „Und? Hast du Lust?“
Plötzlich erinnerte Felicitas sich daran, dass sie Aranck noch eine Antwort schuldete. „Äh, nein, heute nicht. Ich, äh, sollte zurückgehen.“
Sie drehte sich hastig um, weil ihr die ganze Situation auf einmal total peinlich und unangenehm vorkam. Als sie ein paar Schritte in die Richtung gemacht hatte, aus der sie gekommen war, hörte sie den Schnee hinter sich unter Arancks Schritten knirschen.
„Ich kann dich begleiten, wenn du möchtest. Im Winter habe ich sowieso fast nichts zu tun ... na ja, nicht dass es im Sommer so viel mehr wäre ...“ Er verstummte und sah sie erwartungsvoll an.
„Nein, danke.“ Sie konnte ihn unmöglich zu dem alten Schloss führen. Er würde wissen wollen, wieso sie dort lebte, und was sollte sie ihm dann erzählen? „Dieses Mal finde ich den Weg auch alleine.“
Er blieb stehen. Auf einmal waren ihre Schritte die einzigen Geräusche in der Stille, die sie umgab.
„Warte.“ Er sagte es so leise, dass Felicitas sich nicht sicher war, ob er es überhaupt gesagt hatte. Trotzdem blieb sie stehen und drehte sich zu ihm um. „Ich würde dich gerne wiedersehen.“
Ihr Herz drohte auszusetzen. Irgendwie gelang es ihr, ein „In Ordnung“ hervorzupressen.
„Wie wäre es mit morgen? Gleiche Zeit, gleicher Ort?“ Er zog die Augenbrauen ein wenig hoch, als er sie ansah.
„Morgen ist schlecht“, hörte Felicitas sich sagen. „Vielleicht ... in drei Tagen?“ Sie wollte nicht, dass jemandem auffiel, dass sie das Schloss verließ. Außerdem sollte sie dringend ein wenig schlafen, denn inzwischen breitete sich eine bleierne Müdigkeit in ihr aus.
Aranck nickte. „Okay.“
Sie nickte ebenfalls und lächelte. „Okay“, wiederholte sie, „bis dann.“ Damit drehte sie sich um und ging. Fast automatisch trugen ihre Beine sie zurück zur Schule.
Als Ailinas Wecker sie am nächsten Abend aus dem Schlaf riss, kam es Felicitas so vor, als hätte sie keine Sekunde geschlafen. Im ersten Moment war sie sich nicht sicher, ob sie ihren Ausflug in den Wald nur geträumt oder tatsächlich erlebt hatte, doch dann sah sie die Wasserpfütze, die sich unter ihren, besser gesagt unter Julys, Winterstiefeln gebildet hatte. Sie war also wirklich draußen im Schnee gewesen.
Draußen im Schnee!
Was, wenn jemand ihre Fußspuren bemerkte?
Ailina zerstreute ihre Befürchtungen, indem sie einen Blick aus dem Fenster warf und verkündete, dass es erneut geschneit hätte.
An diesem Tag hatten sie in der ersten Stunde Philosophie. Vor dem Unterricht erklärte Jessy jedem, der es hören wollte, und auch allen, die es nicht hören wollten, dass ihr kleiner Bruder Andy heute Geburtstag hatte. „Ich wünschte, ich könnte bei ihm sein!“, seufzte sie und zum ersten Mal seit Langem wich das Lächeln aus Jessys Gesicht und machte einer Traurigkeit Platz, die gar nicht zu ihr passen wollte. Felicitas starrte aus dem Fenster in die schwarze Nacht hinaus. Sandra hatte am ersten September Geburtstag gehabt.
Als Ituma das Klassenzimmer betrat, wurde es still. Die Lehrerin nickte den Schülern mit ihrem aufgesetzten Lächeln im Gesicht zu, während sie sich auf ihrem Platz niederließ.
„Von heute an wollen wir uns mit einem neuen Thema beschäftigen. Mit einem Thema, das euch alle etwas angeht.“ Ihr ernster Blick huschte von Schüler zu Schüler. „Mit dem Tod“, erklärte sie. Felicitas spürte, wie sich etwas in ihr zusammenzog.
Eva.
Eva bedeutet Leben.
Was für eine Ironie.
Ailina schloss kurz die Augen und berührte den Anhänger ihrer Kette mit ihren Fingern. Itumas Blick ruhte etwas länger auf ihr.
„Ich bin mir sicher, dass einige von euch schon einmal mit dem Tod konfrontiert worden sind und jetzt am liebsten nicht darüber reden wollen. Wunden heilen bekanntlich besser, wenn man nicht darin herumstochert.“
Ihre Stimme klang unangenehm laut in dem ansonsten vollkommen stillen Klassenzimmer. „Ich persönlich finde es trotzdem - oder gerade deswegen - wichtig, dass man sich mit diesem Thema auseinandersetzt. Aber ich kann euch nicht zwingen. Wer möchte, darf das Klassenzimmer verlassen.“ Keiner rührte sich.
„Gut.“ Ituma nickte anerkennend. „Wir wollen uns hier nicht mit hochphilosophischen Fragen zum Thema Tod befassen, sondern einfach nur darüber reden. Auch als Wandler sind wir nicht unsterblich. Gerade als Wandler müssen wir alles geben, um den Menschen neue Möglichkeiten, neue Wege zu zeigen. Sie in eine bessere, sicherere Zukunft zu führen.“
Wir müssen dieses gemeinschaftliche Ziel über unser Leben stellen. Die Worte hingen unausgesprochen in der Luft.
„Als Erstes möchte ich von euch wissen, was euch zum besagten Thema einfällt.“
Ituma sah ihre Schüler erwartungsvoll an.
Zuerst sagte niemand etwas, dann meinte Jessy: „Einsamkeit.“
„Angst“, sagte Christiane.
Wieder war es kurz still.
„Hoffnung“, meinte Simon.
„Der Himmel“, flüsterte Felicitas.
„Hurt von Christina Aguilera“, kam es von Ailina, wofür sie sich einige schräge Blicke einhandelte.
„Krankenhaus.“
„Bunte Blumen.“
„Beerdigungen.“
„Gott.“
Ituma hörte geduldig zu, während sich das Klassenzimmer mit Begriffen füllte.
„Dunkelheit.“
„Licht.“
„Verlust.“
„Müssen Wandler eigentlich eine bestimmte Religion annehmen?“, fragte Jessy plötzlich.
Ituma sah sie überrascht an. „Natürlich nicht. Jeder darf glauben, was er will.“
„Glaubt ihr, dass es wirklich einen Gott gibt?“, wollte July auf einmal wissen.
Kurz herrschte Stille, dann war es Ailina, die antwortete. „Natürlich“, meinte sie. „Ich meine ... das Leben verläuft in so merkwürdigen Bahnen. Es muss doch jemanden geben, der das alles lenkt, oder? Außerdem“, fuhr sie leiser fort, „können unsere Verstorbenen mit ihrem Tod nicht einfach verschwunden sein.“ Ailina sprach jetzt so leise, dass Felicitas es kaum verstand. „Spürt ihr sie nicht manchmal? Wenn ... wenn es gerade ganz schwierig ist, dann sind sie da und geben mir Kraft. Ich weiß, dass sie da sind.“ Ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Meine Eltern, meine ich.“
Für einen kurzen Moment schien niemand zu wissen, was er sagen sollte.
„Meine Oma hat immer gesagt, mit Gott ist es wie mit der Liebe“, meinte Christiane auf einmal. „Man kann ihn nicht sehen und nicht beweisen, dass er wirklich existiert, aber man weiß, dass er es tut. Weil man es spürt.“
Die Unterrichtsstunden zogen sich in die Länge. Am liebsten hätte Felicitas sich einfach hingelegt und die Augen geschlossen, aber sie kämpfte sich durch die Nacht.
Als sie schließlich kurz vor dem Abendessen hinter Ailina her durch die Gänge des Schlosses eilte, überlegte sie, ob sie Mingan bitten