„Natürlich, ich bleibe gerne, vielleicht schaffen wir es zu dritt.“
Unvermittelt stand Ana auf und sah zu uns herunter. Dieses Mal gelang ihr der überhebliche Blick. „Ich werde nicht hier rumsitzen und irgendwelche Rätsel lösen, sondern mir endlich mal einen Jungen suchen. Vielleicht ist ja dieser Jamie interessiert.“ Sie lächelte uns süffisant an und verließ den Wohnwagen.
Ich wollte schon aufspringen und ihr nachlaufen, ihr sagen, dass das hier wichtiger als irgendein Junge war, aber Tran hielt mich zurück, indem sie sagte: „Lass sie, sie wird ihren Fehler vermutlich schneller, als ihr lieb ist, erkennen und von selbst zurückkommen.“
„Sie bringt mich mit ihrem Verhalten einfach zur Weißglut.“
„Mich auch, aber wir können wohl nichts daran ändern.“
Nicht wirklich überzeugt setzte ich mich wieder an den Tisch und versuchte mich auf die Rätsel zu konzentrieren. Doch meine Gedanken schweiften wieder zu dem Überfall heute Mittag zurück und unvermittelt fragte ich Transca: „Was ist heute im Wald passiert? War es eine Riesenspinne?“ Ich beobachtete sie ganz genau, deshalb entging mir weder das Erstaunen noch das kurze Aufflackern eines Grinsens.
„Nein, ich zumindest habe da einen großen Wolf gesehen, der dann wieder abgehauen ist.“
„Ich auch, aber für mich hat es so ausgesehen ... na ja ... als ob Ana ihn vertrieben hätte.“
Nun musterte mich Tran ihrerseits genau. „Für mich auch, aber wie soll sie das bewerkstelligt haben? Wie soll sie einen ausgewachsenen, verhungerten Wolf von einer potenziellen Beute, nämlich uns, fernhalten? Und wieso können sich die anderen nicht daran erinnern?“
„Oder anders gefragt, wieso können gerade wir uns an die Wahrheit erinnern? War es überhaupt die Wahrheit, was sich vor unseren Augen abgespielt hat, oder haben die anderen die Realität gesehen?“
Kurz herrschte Schweigen, wir suchten beide nach Antworten, als Transca noch zwei Fragen einfielen. „Meinst du, Lysana erinnert sich an den Wolf? Und hängen diese Briefe mit dem Vorfall zusammen?“
„Ich habe keine Ahnung“, war alles, was mir dazu einfiel. Dann fügte ich mit einem Seufzer hinzu: „Lösen wir erst mal das schriftliche Problem vor uns, vielleicht können wir anschließend mehr sagen. Welches Stück sollen wir uns zuerst vornehmen?“
„Ich denke, meines ist am konkretesten formuliert. Also schön, von vorne ... Angesprochen ist ein toter Spender von Energie. Irgendwelche Ideen?“
„Nicht wirklich. Wir sollten erst einmal Informationen suchen über das Du. Es wird gehalten von etwas, aber nie berührt davon ... Geht das überhaupt?“ Ich stockte, bevor ich richtig angefangen hatte.
Tran zuckte ratlos mit den Schultern und machte weiter. „Und es wird mit Leben versorgt, kann also nicht selbst leben und wurde nicht wahrgenommen ... Wie soll das gehen? Wie kann jemand mit etwas versorgt werden, ohne wahrgenommen zu werden?“
„Vielleicht ein Dieb. Wenn man einen einlädt zum Beispiel und der dann etwas mitgehen lässt, dann wurde er versorgt, ohne dass diese Versorgung wahrgenommen wurde.“
„Denke ich nicht. Du vergisst, es muss außerdem ein Spender von Energie sein und von jemandem gehalten werden, ohne von diesem berührt zu werden.“
„Warte mal, da steht die Vergangenheitsform, also wird er jetzt nicht mehr mit Leben versorgt oder gehalten ...“ Plötzlich sprang Tran triumphierend auf und führte einen kurzen Freudentanz zu einem Lied, das im Hintergrund im Radio lief, auf.
Verwirrt sah ich ihr zu. „Verrätst du mir, was los ist? Du hast es gelöst? Dann sag es mir!“ Sie schaute mich an, strahlend und grinsend, und sagte: „Nein, habe ich nicht, aber das ist eines meiner Lieblingslieder und ich wusste nicht mehr, wie es heißt.“ Enttäuscht ließ ich den Kopf hängen, als ich sie lachen hörte. „Du bist so leicht in die Irre zu führen. Natürlich ist das eines meiner Lieblingslieder, aber ich weiß auch, wer mit du gemeint ist. Es ist ein totes Blatt! Wurzeln halten den Baum und der wiederum die Blätter, aber ein Blatt berührt die Wurzel im Normalfall nicht. Es betreibt Fotosynthese, die den Baum am Leben erhält, und der versorgt im Gegenzug die Blätter mit Wasser, nimmt aber nicht jedes richtig wahr. Fertig!“ Sie lachte und dieses Mal konnte ich einstimmen. Ihre Lösung stimmte perfekt mit den notierten Kriterien überein.
Als wir uns beruhigt hatten, sagte ich: „Dann mal weiter. Dieses Blatt muss also auf einer Wurzel liegen, höher als die anderen abgefallenen Blätter. Allerdings ist jetzt Sommer und da gibt es nur halb oder ganz zersetzte Blätter.“
„Ja, aber es muss das erste Blatt sein, das herunterfällt, denn danach folgen seine Geschwister. Es passt, denn dieses Blatt könnte man rein theoretisch wirklich als Anführer der Blätter ansehen, obwohl es eigentlich allem untergeordnet ist.“
„Stimmt. Aber was das mit der Behüterin soll ... Ein Baum kann nirgends hinkommen und ansonsten wüsste ich nicht, wer als Blattbehüterin dienen könnte.“
Auch Transca schüttelte den Kopf und blickte nachdenklich auf das Rätsel. „Wir müssen noch rausbekommen, was mit Leben, Geschichten, Gut, Böse, Wahrheit und Lüge gemeint sein soll. Und wie kann ein Blatt etwas offenbaren? Und wie wieder lebendig werden, wenn es auf einer Wurzel liegt?“
Wir saßen noch einige Minuten grübelnd da, bevor ich frustriert den Kopf schüttelte und sagte: „Lass uns mit meinem Rätsel weitermachen. Das ist das längste, vielleicht bekommen wir dadurch auch die meisten Informationen. Also, an wen ist es gerichtet?“
„Ich denke, am Anfang an keinen und am Ende an dich, oder? Kommt dir das plausibel vor?“
„Nicht wirklich, aber mir ist gerade etwas eingefallen. Als ich im Wald war, habe ich auch so ein Rätsel aufbekommen und darin war von einer Nacht, die Mendelssohn-Bartholdy vertont hat, die Rede. Ich denke, er ist mit dem Komponisten gemeint. Das Lied hab ich gegoogelt, es ist ein Sommernachtstraum.“
„Also musst du das Lied abspielen, wenn was ist? Da steht etwas von einem, der sein vollstes Licht entfalten und seinen höchsten Punkt erreichen soll, der die Fluten anstacheln kann. Keine Ahnung, was das bedeuten soll.“
„Für mich kann das nur der Mond sein, ich nehme an, der Vollmond. Der kann das Meer ja regelrecht antreiben. Und vollstes Licht hört sich für mich ebenfalls danach an. Und geht es nicht in Büchern auch immer um den Vollmond?“
„Stimmt, das hört sich stimmig an. Also weiter.“ Transca wirkte aufgekratzt wie ein kleines Kind, was mich unwillkürlich zum Schmunzeln brachte.
„Wie willst du weitermachen, von dem Rest verstehe ich rein gar nichts mehr.“
„Stimmt auch wieder. Sollen wir uns an Lysanas Rätsel machen oder damit warten, bis sie wiederkommt?“
Unerwartet ertönte da am Eingang des Wohnwagens ihre Stimme: „Nun braucht ihr nicht länger zu warten, ich bin wieder da.“ Wir drehten uns auf unseren Stühlen um und sahen tatsächlich Ana in der Tür stehen. Sie kam herein und ließ sich auf den dritten Stuhl fallen. „Was habt ihr bisher rausbekommen?“, erkundigte sie sich und mir war ihre Stimme eine Spur zu geschäftig, als ob das Ganze nur eine unangenehme Pflicht für sie sei.
„Wieso hast du dich dazu entschlossen, zurückzukommen?“, antwortete ich mit einer Gegenfrage.
Sie verdrehte genervt die Augen. „Nur weil ich blond bin, heißt das nicht, dass ich blöd bin.“
Ich konnte mir nicht verkneifen zu murmeln: „Das ist ja mal was ganz Neues!“
Sie warf mir einen bitterbösen Blick zu, fuhr aber ansonsten ungerührt fort: „Mir ist durchaus klar, dass ich dazugehöre und irgendwie mithelfen muss. Und ich dachte mir, dass ihr mit meinem Rätsel bis zum Ende warten würdet, also hab ich mich vorher einfach noch eine Weile entspannt. Wieso sollte ich auch die ganze Zeit dabeisitzen? Ich frage noch einmal, was habt ihr bisher rausgefunden?“
Ich