Normalerweise sollte er nicht hier sein. Normalerweise dürfte sich kein Wolf so nahe an uns herantrauen. Normalerweise sollte er nun Stopp machen und flüchten, denn auch die meisten anderen unserer Gruppe hatten angefangen zu schreien. Normalerweise sollte es hier gar keine Wölfe geben, zumindest laut Tran, die sich hier eigentlich sehr gut auskannte.
Aber es war nichts Natürliches daran, wie er sich immer näher an uns heranschlich, wie er die Zähne zeigte und knurrte, und auch nicht daran, wie Ana vortrat, ihm den Weg verstellte und zurückknurrte. Ein animalisches Geräusch kam über ihre Lippen, woraufhin der Wolf prompt seinen Schwanz einzog, sich umdrehte und wieder im Wald verschwand. Mit einem leisen Aufseufzen wurde Marina ohnmächtig, wir konnten sie gerade noch so auffangen.
Ich war vor allem verwirrt. Ich hatte eigentlich keine riesige Angst gehabt, sondern mir eher Fragen gestellt, wieso der Wolf hierhergekommen war, wieso Ana das gemacht hatte, wobei ich nicht mal beschreiben konnte, was das gewesen war, und wieso der Wolf anschließend verschwunden war.
Die anderen standen eine Weile nur da und starrten in die Ferne. Dann schienen sie aus ihrer Trance zurückzukehren und begannen, Marina zu schütteln. Als diese schließlich aufwachte, wurde es für mich noch verwirrender. Denn sie wurde gefragt, warum sie so geschrien hätte, was sie in dem Wald gesehen habe, das sie derart in Panik versetzt hätte, und ihre Antwort lautete, sie sei vor einer Spinne erschrocken und könne sich nicht mehr daran erinnern, was danach passiert wäre.
Nun war ich restlos verwirrt, denn ich konnte noch immer den Wolf vor mir sehen, wie er auf uns zukam. Konnte sehen, wie Ana uns rettete. Doch die anderen schienen keinen Wolf gesehen zu haben, sondern eine große Spinne, und an mehr konnten sie sich nicht erinnern. Nur Ana sah ich ebenfalls die Stirn runzeln.
Nach diesem Ereignis brachen wir auf und hasteten zurück nach Grettersane, allesamt zwar anscheinend aus verschiedenen Gründen geschockt, aber darin einig, so schnell wie möglich von der ach so wundervoll friedlichen Lichtung wegkommen zu wollen.
Endlich wieder in Grettersane angekommen, empfing uns Lilly. „Da seid ihr ja! Was ist denn passiert? Ihr seht ja schlimm aus.“
Kath rang zwar noch nach Atem, übernahm aber den Bericht unseres kleinen Abenteuers. Als sie geendet hatte, musste Lilly offensichtlich ein Lachen unterdrücken. Aber der Spott war in ihrer Stimme zu hören, als sie nachfragte: „Marina hat also eine große Spinne gesehen, geschrien und dann seid ihr alle in wilder Hast geflohen? Vor einer Spinne? Wie alt seid ihr denn?“
Die anderen wurden rot, ich allerdings fragte ungerührt zurück: „Wieso hast du uns gesucht? Gibt es irgendetwas Wichtiges?“
Sie schaute mich an, schien einen Moment zu zögern und zu überlegen, ob sie das Thema Spinne schon ruhen lassen sollte, und antwortete dann: „Ja, ich habe hier Nachrichten für ... Moment ... ah, für Lysana, Tran und dich, Victoria.“ Wir runzelten verwirrt die Stirn und nahmen die kleinen Zettel, die aus feinem, aber fremdartig wirkendem Papier bestanden, entgegen. Sie winkte uns zu, grinste noch einmal und war dann hinter der nächsten Hausecke verschwunden.
Marina verabschiedete sich mit der Erklärung, dass sie sich erholen müsse, und ging in Richtung der Ferienwohnsiedlung davon. Caroline lief ihr hinterher, sie wollte ihre Schwester nicht allein lassen. Kath und Philipp verzogen sich in ihre Wohnung, Melissa und Lisa stritten sich und entfernten sich dabei immer mehr von uns. Schließlich blieben nur noch Ana, Tran, Eric und ich übrig. Wir Mädchen sahen uns gegenseitig an und falteten dann die Zettel auf. Dort stand in enger, schwer zu lesender Schrift etwas, das mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Verstohlen musterte ich die anderen beiden und sah, dass auch sie sehr erschrocken wirkten.
Eric fragte uns: „Was ist los? Was steht auf den Zetteln? Warum seid ihr so blass?“ Er schien ernsthaft besorgt.
Ich fand meine Stimme wieder und beruhigte ihn: „Es ist nichts Wichtiges. Brauchst dir keine Sorgen zu machen, wirklich. Ich weiß zwar nicht, was bei euch steht, aber so schlimm kann es ja nicht sein.“ Ich sah die Mädchen an, die offenbar wieder klarer wurden und nickten. Eric schien mir zwar nicht zu glauben, fragte aber nicht weiter nach. Er verabschiedete sich nach etwa fünf Minuten ohne Erklärung und ließ uns drei zurück.
„Nicht so schlimm?“, beschwerte sich Ana. „Ich weiß zwar nicht, was bei dir steht, aber bei mir ist von Opfern und anderem abstrusen Zeug die Rede, und das nenne ich durchaus schlimm. Oh, ich weiß wirklich nicht, warum es euch etwas angehen sollte, aber leider habe ich das ungute Gefühl, dass es euch etwas angeht, schließlich habt ihr auch solche Briefe.“
„Opfer? Und wieso sollte es uns nichts angehen?“, fragten Tran und ich wie aus einem Munde.
„Ja, Opfer, muss ich erklären, was das ist? Ich meine, damit solltet ihr euch doch auskennen“, meinte sie in der Absicht, cool und unnahbar zu wirken, allerdings ohne Erfolg. Ihr Blick, der wohl überheblich aussehen sollte, wirkte eher Hilfe suchend und verwirrt. Als keine Antwort kam, fuhr sie fort: „Ich les ihn euch einfach vor, ja?“ Tran nickte.
„Lebenssaft von drei Opfern entnommen, mit Bruchstücken einer Seele Wunden zugefügt, die nicht leicht zu heilen sind, vermischt mit anderem Lebenssaft aus dem lebendigsten Ort unter Midjis’ Herrschaft bilden Gegensätze, die zunächst allzu klar scheinen, es aber nicht sind. Doch Nykra befiehlt sie alle zu sich, alle Lebenssäfte werden zur Nahrung der Toten, ausgenommen Säfte von jenen, die dem Regenbogen abgeschworen haben, und vor ihnen musst du, das Opfer des Kultes, dich in Acht nehmen.“
Wir starrten sie fassungslos an. Schließlich sagte ich mit etwas zittriger Stimme: „Okay, so seltsam ist meine Nachricht nicht, oder eher gesagt, so seltsam schon, aber nicht so grausig.“ Dann sah ich auf den Brief in meinen Händen hinab und begann, mit stockender Stimme vorzulesen: „Jener weltbekannte Komponist, der die Zeit angab, muss sein schönstes Werk spielen, wenn derjenige, der die Fluten anzustacheln weiß, seinen höchsten Punkt, sein vollstes Licht entfaltet hat. Ferner ist das, was uns alle umgibt und ausmacht, das sich in drei Formen zeigt, nicht immer leicht und Verluste soll man nicht rächen, sondern betrauern, Gefühle sollen nie die Oberhand gewinnen, sondern inspirieren, und Qualen nicht ausgestanden, sondern bekämpft werden. Du kennst viele Wege und Arten zu existieren, ohne zu fühlen, zu träumen, ohne zu schlafen, und zu sein, ohne zu wissen, wer du bist. Denke daran, nichts ist Zufall, und habe Vertrauen. Lasse den Raben krächzen.“
Als ich aufblickte, waren zwei äußerst verwirrte Blicke auf mich gerichtet. Bestürzt bemerkte ich, dass meine Finger zitterten, und damit sie etwas zu tun hatten, faltete ich das Blatt hastig zusammen. Ich sah Tran an und sagte: „Komm, lass auch du die Katze aus dem Sack.“
Sie nickte zustimmend und begann vorzulesen: „Toter Spender von Energie, du musst Leben und Geschichten, Gut und Schlecht, Wahrheit und Lüge offenbaren. Doch Totes allein kann nicht wieder lebendig sein, so musst du auf dem, was dich hielt, das du aber nie berührtest, auf dem, was dich mit Leben versorgte, dich aber nie wahrgenommen hat, liegen, höher als deine toten Brüder. Doch nicht beliebig kannst du sein, sondern nur der Erste, Vorbild für Geschwister und doch allem untertan. Und wenn deine Behüterin kommt, durch das Holz zum Blutenden, jene, welche aufwuchs im Glück, das jedoch nun so tot ist wie du, dann musst du bereit sein.“
Wir sahen uns sprachlos an und hatten keine Zweifel mehr, dass hier etwas nicht richtig lief. Dann sagte Tran mit noch immer belegter Stimme: „Lasst uns bei mir zu Hause drüber reden, da sind wir ungestörter.“ Ohne Protest folgten wir ihr.
In ihrem Wohnwagen setzten wir uns an den Tisch und legten die Rätsel darauf. Dann lasen wir sie uns noch ein paarmal durch. Schließlich sah mich Lysana abwartend an.
„Was schaust du so?“, fragte ich sie.
„Ich warte darauf, dass du uns die Lösung präsentierst. Du bist so ein Rätseltyp und ich kann mit den Teilen da“, sie sah abwertend auf die Blätter und rümpfte demonstrativ die Nase, „einfach nichts anfangen. Also?“
Ich zog die Augenbrauen hoch und sah sie ungläubig an. „Wie kommst du darauf, ich sei ein Rätseltyp? Ich verstehe von Rätseln