In den ersten Tagen meines Pariser Aufenthalts ging ich die Seine entlang durchs Quartier Latin, um bei den Antiquaren, die hier ihre Holzgerüste aufgeschlagen haben, ein bißchen zu schnüffeln. Bücherwurm, der ich seit meinen Schülerjahren gewesen, vermutete ich hier allerlei Entdeckungen. Während ich bei einem Antiquar die Bücherhaufen durcheinanderbrachte, hörte ich plötzlich meinen Vornamen rufen: »Stefan«. Ich kann nicht sagen, was für eine jähe Freude mich durchfuhr, als ich plötzlich meinen Namen hörte. Ich drehte mich um, ein kleiner, hagerer, sehr fidel aussehender Mensch kam auf mich zu und sagte deutsch: »Ich habe Ihren Zunamen vergessen, ich weiß nur, daß Sie Stefan heißen.« Dabei schüttelte er mir die Hand, wie einem alten Freunde, und etwas Ähnliches ist er von diesem Tage an für mich geworden. Es war ein Buchhandlungsgehilfe aus Wien, der in der Buchhandlung gedient hatte, in der ich meine Reclambändchen zu kaufen pflegte. Er hieß Julius Bard und ist später ein großer deutscher Verleger geworden. Damals war er ein armer Teufel wie ich, aber er war nicht ideenverrannt, sondern froh und praktisch. »Wovon lebst du?« fragte er mich.
»Wenn ich das wüßte.« Ich hatte noch zehn Franken von Wien her in der Tasche. »Machen wir doch ein Antiquariat auf«, sagte Bard. »Du verstehst doch auch etwas von Büchern. Trachten wir hier, aus Bücherbergen Erstausgaben und dergleichen herauszufischen, und senden wir sie nach Wien an meine Buchhandlung, die antiquarische Bücher zu anständigen Preisen kauft.« Wir opferten jeder zehn Franken für das Geschäft und kauften für zwanzig Franken einen Stoß gut ausgesuchter hierher verirrter Erstausgaben. Nach einer Woche erhielten wir den doppelten Betrag aus Wien zugeschickt. Von diesen Entdeckungen bei den Bücherbudikern haben Bard und ich ein Jahr lang in Paris gelebt. Wir haben in jeder Woche zwei Forschungsreisen unternommen und so viel dabei gefunden, wie wir zu unserem bedürfnislosen Leben brauchten.
Alles wäre gut gegangen, wenn Huber mich nicht eines Tages von hohem Fieber geschüttelt, zu matt, um aufzustehen, in meinem Bett gefunden hätte. Es fiel mir nicht ein, einen Arzt holen zu lassen. Das Fieber entsprach meinem inneren Zustand, ich wollte gar nicht genesen.
Aber mein guter Huber saß allabendlich an meinem Bett. Am Morgen legte er in der fürsorglichsten Weise ein paar Nahrungsmittel auf denTisch, weißen leichten Käse, Obst, Schinken und eine große Flasche des langweiligsten Mineralwassers der Welt, Evian. Nach drei Wochen verließ ich das Bett. Als ich aufstand, war ich noch weißer im Gesicht als sonst und noch hagerer als vorher. Meine einzige Unterhaltung waren ein paar Zeitungen, die mir Huber regelmäßig brachte. Paris war damals mitten in den wildesten Aufregungen der Dreyfuskampagne. Kaum war ich halbwegs auf den Beinen, ich zitterte noch in den Knien, wenn ich die Treppe hinunterging, da beschloß ich, in die Kammer zu gehen, um Jaurès zu hören. Zweimal war ich vergebens dort, alle Eintrittskarten waren längst ausgegeben. Da vertraute ich diesen Wunsch meinem Freunde Bard an. Er lächelte verschmitzt und sagte: »Ach, du bist ja ungeschickt, auf normalem Wege können wir nie in die Kammer kommen. Ich hole dich morgen früh ab.« Am nächsten Tage fuhren wir auf dem Omnibusdach zur Kammer. Es war etwa eine halbe Stunde vor Beginn der Sitzung. Bard ging resolut auf die Pressetribüne los, er ließ durch einen Diener einen deutschen Zeitungskorrespondenten herausbitten und sagte ihm: »Wir können beide stenographieren, dürfen wir Ihnen nicht irgendwie heute nützlich sein?« Das Angebot wurde angenommen, wir wurden auf die überfüllte Tribüne geboxt, und ich hörte Jaurès zum erstenmal sprechen. Ich habe in meinem Leben viele berühmte Redner gehört. Ich habe Bebels hitzige Prophezeiungen vernommen, ich hatte das Glück, Viktor Adlers beißende Reden zu hören, ich habe Friedrich Naumanns Gedankenpathos genossen und Stresemanns wohldurchdachte Arien. Aber kein rethorischer Eindruck ist auch nur einen Augenblick mit der Urgewalt der Jaurèsschen Reden zu vergleichen. Der bärtige kleine Mann legte sich über das Rednerpult, und in seinen ausgebreiteten Armen schien er ein Meer zu tragen. Er war kein Redner, er war – ein tönendes Stück Natur. Die Wellen seiner pathetischen Empörung donnerten langsam heran und steigerten sich zu immer höheren Bergen. Und dann hatte er ein ganz leises Pianissimo. Seine Rede atmete, er stürmte vorwärts, und er sah sich um – die Stille zwischen den Gewittern war bezwingend. Jaurès, von Beruf Philosophiedozent, hat als Redner nie durch Bildung zu wirken gesucht. Er war ein Ethiker, ohne es zu wissen, und er wirkte ethisch, ohne es zu wollen. Sein französischer bon sens gab ihm eine instinktive Gliederung der Rede. Im Grunde genommen bestand seine rethorische Technik darin, daß er imstande war, seinHerz zu öffnen.
Ich ging von dieser ersten Jaurèsrede vollkommen bezwungen nach Hause, und was das Schönste war, der Bann des mönchischen Lebens schien gebrochen. Ich wollte nun jede Phase des Dreyfusdramas miterleben, Aktivismus, das bedeutete also nicht nur Attentate, direkten oder indirekten Selbstmord, Aktivismus, das konnte also auch ein schrittweises Erobern und geistiges Durchdringen der Welt bedeuten! Der Tag, an dem ich Jaurès gehört hatte, hat den zölibatären Bann des isolierten Jünglings gebrochen. Einige Tage später gab ich das düstere Asyl in der Avenue Parmentier auf und übersiedelte mit meinem Freunde Bard ins Quartier Latin; so waren wir den Antiquaren und der Kammer näher. Übrigens empfing ich von den deutschen Korrespondenten, denen wir uns bei den Dreyfusdebatten zur Verfügung gestellt hatten, nur Freundlichkeiten. Ich muß damals furchtbar elend ausgesehen haben. Zwei Jahrzehnte später hat ein Röntgenologe, der mich untersucht hat, aus dem Narbenbilde meiner Lunge auf eine schwere Jugendtuberkulose geschlossen. Sicher bin ich damals in Paris nicht nur geistig, sondern auch physisch dem Tode ganz nahe gewesen. Eine Menschenscheu, die ich später kaum mehr begriffen habe, distanzierte mich auch von den Menschen, die mir wohlwollten. Zum Beispiel hätten die Zeitungsleute, denen wir in den langen und anstrengenden Dreyfussitzungen gute Dienste geleistet, sehr gern mehr für uns tun mögen, als uns für unsere Zeit zu entschädigen. An meiner steifen Zugeknöpftheit prallte jeder freundliche Hilfsversuch ab.
Am Weihnachtstage erhielt ich in aller Früh einen Rohrpostbrief der österreichischen Botschaft, worin ich dringend gebeten wurde, doch im Laufe des Vormittags dort zu erscheinen. Gewohnt, das Bitterste zu denken, vermutete ich einen drohenden Prozeß, die Ausweisung, irgendeine Verfolgung durch die Behörden meiner Heimat. Ich kam hin, ein junger Diplomat, Herr von Dumba, empfing mich sehr liebenswürdig, er lächelte ununterbrochen, bat mich Platz zu nehmen und erklärte mir, die Herren hätten eine ganz dringende Übersetzung, die heute noch gemacht werden müsse und für die ihnen im Augenblick leider gar keine Kraft zur Verfügung stünde. Ob ich die Arbeit übernehmen wolle? Das Honorar betrage hundertfünfzig Franken. Ich könne sehr wohl, wenn ich fleißig übersetze, noch im Laufe des Vormittags mit der Arbeit fertig werden. Ich weigerte mich nicht, aber ich war auch nicht gewohnt zu danken. Ich wurde in ein kleines Zimmer geführt. Mein Botschaftsrat verschwand durch eine Tapetentür und brachte mir fünf Minuten später einen Aufsatz aus dem Figaro über die ersten Cholerafälle auf dem Balkan. Ich in meinem ahnungslosen Ernst übersetzte ohne aufzublicken, um zwölf Uhr war ich fertig und konnte Herrn von Dumba die Arbeit überreichen. »Sie haben uns einen sehr großen Dienst erwiesen, Herr Großmann.« Der Botschaftsrat lächelte immer wieder, ich hielt das für diplomatische Liebenswürdigkeit, dann überreichte er mir ein Kuvert mit hundertfünfzig Franken. Ich stieg die breite Treppe des Botschaftspalastes