Ich war begeistert. Stefan Großmann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stefan Großmann
Издательство: Bookwire
Серия: Wiener Literaturen
Жанр произведения: Философия
Год издания: 0
isbn: 9783903005839
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davon. Sich dieses Diarrhöe-Wissen anzueignen, war zu sinnlos. Mein Vater lag in schwerem Siechtum zu Bett, ein halbes Jahr lang, während ich im Prater herumbummelte oder in der Universitätsbibliothek hockte oder die Bücher des Arbeiterbildungsvereins Gumpendorf durchackerte, ein halbes Jahr lang habe ich meinen Vater belogen und ihm Schulbesuch vorgetäuscht. Es gehört heute noch zu meinen Schreckensträumen, daß ich am Bett meines schweratmenden Vaters stehe und er dahinterkommt, daß ich all die Zeit die Realschule geschwänzt habe.

      Nicht nur meiner Familie war ich entfremdet, all die Leute, die mir sagten: »Du mußt an einen Broterwerb denken; der Mensch lebt nicht nur von Luft. Geld, Geld, Geld, darauf kommt es an«, all diese Leute redeten eine andere Sprache als ich. Ich war von den Arbeitern, denen ich in jenen frühen Morgenstunden ein Gläschen Schnaps vorgesetzt hatte, sozialistisch infiziert worden. Ich hörte täglich von Verhaftungen, Konfiskationen, harten Richtersprüchen, und alles, was jung, knabenhaft und unverbildet in mir war, trieb mich zu den Verfolgten, deren Rechtschaffenheit und Selbstlosigkeit ich in den Morgenstunden vor der Schule – gründlichere Schule! – besser als Polizisten, Richter und Fabrikanten kennengelernt hatte.

      Nie wäre der Sozialismus mit solchen Affektwerten geladen worden, wenn nicht die Romantik der Staatsverbote und die noch lockendere Romantik des Einsatzes der eigenen Person, der lodernde Zauber der Gefahr den einzelnen jungen Menschen an die Sache innerlich gebunden hätte. Während ich so, nicht durch volkswirtschaftliche Theorien, sondern vor allem durch das Abenteuer der Geheimbündelei in die sozialistische Bewegung verstrickt wurde, wuchs meine Isolierung in der Familie. Meine von Sorgen bedrückte und durch das Siechtum des Vaters doppelt besorgte Mutter erschien meinem halb knabenhaften Geist merkwürdigerweise als die Inkarnation des kapitalistischen Denkens. Geld, Geld, Geld, das sie nie hatte und nie in größeren Mengen zu erwerben imstande war, Geld war das wichtigste Wort in ihrem Wörterbuch. Der merkantile Geist der Verwandten, dieses ewige Zweckdenken, und noch dazu das Denken an sehr kleine Zwecke, erzeugte in mir, ich kann es nicht leugnen, antisemitische Regungen. Ich erinnere mich sehr deutlich an einen Versöhnungstag der Juden in der Leopoldsstadt, an dem sie in Feiertagskleidung nach dem Tempel durch die Straßen promenierten. Ein kleiner Junge stand vor dem geschlossenen Laden eines Geschäftes mit einem Farbentopf in der einen und einem Pinsel in der anderen Hand. Mit diesem Pinsel malte er auf die geschlossene Geschäftstür die Worte: »Hoch Schönerer.« Schönerer – das war der Name eines deutschvölkischen, judenfeindlichen Führers, der eine Zeitlang in Wien volkstümlich war. Der kleine Judenjunge verdeckte mit seiner Figur die gemalte Schrift, die Spaziergänger ahnten nicht, welche Überraschung er tückisch für sie vorbereitete. Plötzlich bemerkte ein Vorübergehender, mit schwarzem Gehrock und Zylinder angetan, die provozierende Inschrift. Im Nu wurde dem Jungen Pinsel und Farbentopf aus der Hand gerissen, und die Hiebe hagelten auf den Buben von allen Seiten herunter. Nicht nur weil die Großen in einer so starken Übermacht waren, schlug mein Herz für den kleinen bösartigen Jungen, sondern ich begriff schon damals den antisemitischen Protest des jüdischen Knaben, und ich schloß mich ihm an. Die sozialistische Bewegung in ihren Anfängen war übrigens reich an antijüdischen Protesten. Engels hat den toten Lassalle einen Baron Itzig geheißen, Marx hat sich in seinem viel zu wenig beachteten Aufsatz über die jüdische Frage vernichtend antijüdisch geäußert. Es kam gerade den jüngsten Führern des Sozialismus darauf an, sich von dem jüdischen Kleinbürgertum, dem sie entsprossen, zu distanzieren. Auch ich habe diesem instinktiven Antisemitismus meiner Jünglingsjahre einen entscheidenden Ruck zu danken, nämlich die Loslösung von der Familie.

      Eines Abends ging ich mit jungen Gesinnungsgenossen in eine Versammlung, in der ein verschollener Apostel, Dr. Theodor Hertzka, über die Gründung eines sozialistischen Experimentsstaates in Uganda redete. Das war nun die verlockendste von allen Theorien: Sozialismus plus Afrika, eine funkelnagelneue, nur auf Erkenntnis aufgebaute Mustergesellschaft. Hertzka nannte seinen Staat, nach dem er strebte, »Freiland«. Die dogmatischen Marxisten verhöhnten den Utopisten, aber unsere Wangen wurden heiß, wenn wir an »Freiland« dachten, und wir diskutierten das Freilandprojekt viele Abende lang. Einmal hatte ich das Glück, von Dr. Hertzka zu einer Diskussion in seine Wohnung geladen zu werden. Nur Auserwählte, die an dem Bau mitwirken sollten, waren gekommen. Die Besprechung dauerte bis ein Uhr nachts. Aber wer sah an diesem Abend auf die Uhr? Ich kam zum erstenmal sehr spät nach Hause, ich mußte dem Hausmeister Sperrgeld bezahlen – unerhörte Verschwendung in den Augen meiner Mutter –, dann mußte ich an der Wohnungstür läuten und meine Mutter aus dem Schlaf wekken. Aber Uganda war ja ganz nahe, die ersten Beträge für den Freiland-Staat waren gezeichnet, und die eigentliche Befreiung der Menschheit stand ja vor der Tür. Meine Wangen glühten noch vor Begeisterung, als ich meine Mutter aus dem Schlaf läutete. Nach wenigen Sekunden schlürfte sie heran, schlaftrunken und schlecht gelaunt. Sie hatte mir kaum die Tür geöffnet, da brannte mir schon eine Ohrfeige im Gesicht. Ich taumelte in mein Zimmer und beschloß, das Elternhaus morgen zu verlassen. Nach dem Mittagessen hatte ich meine Habseligkeiten in einen Koffer gepackt und war aus dem Reiche meiner Mutter verschwunden.

      Ein Freund, Freiländer wie ich, der damals sein Einjährigen-Freiwilligen-Jahr absolvierte, nahm mich bereitwilligst in seinem Mietzimmer auf. Ich wußte noch nicht, wo ich morgen zu Mittag essen würde, aber ich war glücklich. Ich besaß dreißig Kreuzer. Mit diesem Vermögen in der Tasche lief ich abends in die Nähe des Karl-Theaters. Auf irgendeine Weise mußte ich den ersten freien Abend im Karl-Theater verbringen. Natürlich würde ich, wenn es sein mußte, zwanzig Kreuzer für die höchste Galerie geopfert haben, aber ich hatte Glück. Ich schlich gegen halb sieben Uhr am Bühneneingang herum, um sieben Uhr tauchte der Chef der Statisterie auf, dem ich dann und wann im Weintraubenhaus einen kräftigen Slibowitz gereicht hatte. Ich grüßte, er kam auf mich zu: »Kannst mittun heute abend, fünfundzwanzig Kreuzer.« Man spielte ein englisches Stück: A dark secret. Ich hatte mit einigen anderen Jungen und Mädchen an den Ufern eines Flusses herumzuwandeln, in den später der Komiker Karl Blasel hineinzuspringen hatte. Mit welcher Inbrunst wandelte ich zum erstenmal an den Ufern des Theaterstromes, wie neugierig blinzelte ich über die Rampenlichter hinüber in einen dunklen, manchmal von Murmeln und Gelächter belebten Zuschauerraum; zum erstenmal sah ich einen ununterbrochen zischelnden Souffleur in seinem Kasten, zum erstenmal erlebte ich die sorglos-frivol-unschuldigen Gespräche der kleinen Schauspieler. Ich stand hinter der dritten Kulisse mit brennenden Wangen und sah auf die Bühne, sah in die leere Hofloge. Plötzlich stand ein großes Mädchen in weißem Trikot neben mir. Sie hatte im Zirkusbild des nächsten Aktes zu tun. Ich muß ein vollkommen verwirrtes Gesicht gemacht haben, als sich das halb entkleidete Mädchen sanft an mich lehnte, und ich werde den schelmischen Ton ihrer Stimme nie vergessen, mit dem mir, zum erstenmal in meinem Leben, eine kleine lustige Laszivität ins Ohr geflüstert wurde.

      Der Einjährige, der mir so hilfreich Nachtquartier angeboten, war eine besonders spannende Figur für mich, denn er hatte ein Liebesverhältnis. Der Kreis, in dem er lebte, war mir an den Freilandabenden bekannt geworden. Ich sah den Einjährigen – daß er in voller Uniform an der Gründung des Zukunftsstaates mitzuarbeiten wagte, erhöhte seinen Nimbus – immer in Begleitung von zwei Schwestern, großen Erscheinungen von römischer Schönheit. Ich kannte die Brüder dieser Schwestern, wir hatten in ihrem Hause zuweilen Musik gehört, Bücher eingetauscht und Bücher besprochen. Alle diese jungen Menschen waren drei, vier Jahre älter als ich, und zwischen einem siebzehnjährigen und einem einundzwanzigjährigen liegen zuweilen nicht vier Jahre, sondern liegt die Kluft einer Lebensperiode. Im Hause der römischen Schwestern wurde kein lautes Wort geredet. Die meisten dieser leise und bedeutsam geführten Gespräche verstand ich nicht. Ich weiß nur, daß das am meisten gesprochene Wort das Wort »Leiden« war. Jeder war stolz darauf, ein Leid auf sich genommen zu haben. Vielleicht war dies die Folge des Einbruchs der russischen Romane, die damals zum erstenmal mit Heißhunger verschlungen wurden. Dostojewski, Tolstoi, Turgenjew – wie konnten wir es wagen, nachdem wir das alles mit Begeisterung geschluckt hatten, zu leben ohne zu leiden? Im tiefsten Schatten Dostojewskis schienen die beiden römischen Schwestern selbst zu stehen, ihre schwarzen Scheitel waren ganz schlicht frisiert, und der tiefe Blick aus ihren wunderschönen großen Augen schien jeden zu fragen: leidest du auch? Am meisten fragten diese Blicke meinen Freund, den Einjährigen, der in seiner bunten Dragoneruniform eigentlich mehr unternehmend als leidend aussah. Das Schlimmste an der Geschichte war, daß die beiden Schwestern abwechselnd, einmal die ältere, einmal die jüngere,