Die Kundschaft bestand aus Arbeitern, die auf dem Wege in die Fabrik einen kräftigen Schnaps zu sich nehmen wollten, aus Fiaker- und Einspännerkutschern, die ihren nächtlichen Standplatz am Karl-Theater für eine Viertelstunde verließen, um sich an meinem Öfchen und an unserem Schnaps zu wärmen, und aus armen halb erfrorenen Frauenzimmern, die ihre traurigen Nachtmärsche mit einem Vanillelikör oder einem kräftigeren Allasch unterbrachen.
Ich bin noch heute nicht imstande, diese eigentlich melancholischen Situationen des um den Schlaf betrogenen Jungen anders als heiter und mit innerster Dankbarkeit anzusehen. Niemals hätte ich jene natürliche Beziehung zu den einfachen Leuten, die mir mein ganzes Leben lang treu geblieben ist, ohne diese Morgenstunden im Schnapsladen erreichen können. Niemals hätte ich die Verbundenheit mit den Arbeitern aus Büchern lernen, und nie hätte ich den Irrsinn der Mechanisierung des erotischen Lebens so deutlich erfassen können als damals, als diese vom Nachttrabe erschöpften Freudenmädchen bescheiden sich auf das Bänkchen hockten, wohin ich ihnen ihren Vanillelikör brachte.
Die Kutscher wurden meine besten Freunde, die Arbeiter brachten dem dreizehnjährigen Jungen die ersten sozialistischen Zeitungen. Jawohl, ich war zu früh aus dem Schlaf gerissen, aber ich danke diesen Morgenstunden mein geistiges und politisches Erwachen. Und zu allem immer wieder die Nähe des alten Karl-Theaters. Der kleine, schlecht erleuchtete Laden, voll von Schnapsluft und Pfeifenrauch, war immer wieder durchsummt von den Liedern aus dem Karl-Theater. Eine merkwürdige Mischung von politischem Verschwörertum, sozialer Erbitterung und musikseliger Tanzfreudigkeit herrschte hier zwischen vier und sieben Uhr morgens.
Um halb acht Uhr löste mich meine Mutter ab. Dann bekam ich schnell einen dünnen Kaffee mit einer Semmel, packte meine Bücher in den Ranzen und wanderte in die Realschule. Saß ich erst in meiner Bank, so meldete sich das fürchterliche Schlafdefizit dieser Monate und Jahre. Besonders in der Chemiestunde, wenn Formel auf Formel mir entgegenwankte, begann ich immer wieder einzunicken. Eines Tages schüttelte mich der Chemieprofessor wach, der gleichzeitig mein Ordinarius war – der Gute, ich werde seinen Namen Cyrill Reichel nicht vergessen –, und fragte: »Zum Teufel, Großmann, warum sind Sie denn immer so schläfrig?« Ich antwortete ehrlich: »Weil ich um drei Uhr aufstehen muß.« Der gute Cyrill – ich sehe seine buschigen Brauen und seinen dicken breiten Schnurrbart noch vor mir – fragte: »Was, um drei Uhr müssen Sie aufstehen?« Und nun erzählte ich ihm, übrigens keineswegs in anklägerischer Art, sondern um mich zu entschuldigen und zu verteidigen, von meiner Morgenarbeit. Er hörte mir zu, ich weiß nicht, ob er an meinen Worten zweifelte. Aber etwa eine Woche später stand ich eines Tages hinter der Budel und traute meinen Augen nicht, als sich die Glastür öffnete und mein Chemieprofessor Cyrill Reichel mitten unter Kutscher, Proletarier und Huren eintrat. Es war der einzige Augenblick in jenen Morgenstunden, in denen ich zu zittern begann; nie hatte ich, wenn ich so allein in dem leeren Laden stand, den Gedanken gehabt, ich könnte überfallen und die spärliche Kasse könnte geraubt werden; immer waren meine Nerven in ungestörter Zuversicht. Aber – als jetzt der Chemieprofessor eintrat, da hatte ich nur ein Gefühl: wie kommst du eigentlich dazu, mich in meiner privaten Sphäre aufzustöbern? Ich hatte nur die Empfindung der Unzulässigkeit seiner Visite. Ihn ging nur an, was ich in der Schule trieb, über mein Leben außerhalb der Schule hatte er kein Aufsichtsrecht. Erst viel später habe ich begriffen, daß es die freundschaftlichste Handlung war, die der gute Cyrill mir erwiesen hat. In dem Augenblick seines Erscheinens empfand ich nichts als störrische Wut.
Wenige Tage darauf wurde mein Vater zum Direktor der Realschule gerufen, und es wurde ihm in entschiedenen Worten vorgehalten, daß ich unmöglich der Schule folgen könne, wenn ich schlaftrunken und schon ermüdet in den Unterricht komme. Cyrill Reichel siegte. Der nächtliche Zulauf im Branntweinladen war von Tag zu Tag, oder eigentlich von Nacht zu Nacht gestiegen. Meine Mutter stellte eine Kassiererin an, und ich konnte bis sieben Uhr morgens schlafen.
Aber der Realschule war ich nun doch entfremdet. Mein geistiges Zentrum lag nicht mehr in der Schule, und deshalb fehlte die Aufgeschlossenheit und Aufmerksamkeit des Schülers. Ich saß wohl in der Schulbank, aber ich hatte mich innerlich abgesperrt und dem Einfluß der Lehrer vollkommen entzogen. Zwei Lehrer spürten das, der Turnlehrer Albin Horn, ein grobschlächtiger, antipsychologischer Geselle, der die geistige Verachtung verdiente, die damals den Turnlehrern entgegengebracht wurde. Ich war ein schmächtiger und blasser Junge, ein fanatischer Leser – ich erinnere mich, daß ich sehr oft auf der Straße im Gehen las, zuweilen sogar in der Dämmerung, so daß ich nur, von Laterne zu Laterne hüpfend, schnell einen Blick in das Reclambüchel werfen konnte. Diesen geschwächten, übergeistigen Jungen hätte ein verständnisvoller Turnlehrer erst recht heranziehen und zu körperlicher Aktivität verlocken müssen. Mein Albin Horn wurde über meine gymnastische Unzulänglichkeit so böse, daß er das faustdicke Seil, das für Springübungen an der Wand hing, herunterholte und mich damit verhaute. Ich kann nicht sagen, daß ich darüber unglücklich war, denn schon in dem Moment, in dem ich mißhandelt wurde, hatte ich den Plan gefaßt, mittels dieser Mißhandlung mich von dem Turnunterricht gänzlich zu drücken. Ich ließ mir die Züchtigung nicht gefallen, sondern rannte zum Entsetzen Albin Horns auf der Stelle zum Direktor, und zehn Minuten später war ich vom Turnen für immer dispensiert.
Der andere Lehrer versuchte das Interesse für die Schule auf mildere Art zu entfachen. Es war der Professor für Deutsch und Geographie, Dr. Franz Willomitzer, der Herausgeber einer ausgezeichneten deutschen Grammatik, in der ich noch heute mit Vergnügen blättere. Er sah sehr soigniert aus, wir bewunderten seinen modischen Anzug, seinen sorgfältig gepflegten Henri IV-Bart, und, was noch wichtiger war, er verstand es, durch seinen freien Vortrag unsere, auch meine Aufmerksamkeit zu fesseln. Er war ein deutschgesinnter Liberaler, und seine nationale Oppositionsstellung gegen den Völkermischmasch Österreichs kam auch in seinen Vorträgen zum Ausdruck. Er wagte es, aus den offiziellen Geschichtsbüchern die lakaienhaftesten Dithyramben auf die Habsburger wegzustreichen. Er murmelte so nebenbei, wenn wir auf diese Geschichtsklitterungen stießen: »Diesen Passus können Sie übergehen.« Eines Tages kam er in die Stunde, den Pack blauer Schulhefte unter dem Arm. Wir hatten einen Aufsatz über den Charakter des armen Spielmannes in der Novelle von Franz Grillparzer zu schreiben. Professor Willomitzer stieg langsam das Podium empor, legte mit einer gewissen Feierlichkeit die Schulhefte auf den Kathedertisch, machte eine Spannung erzeugende Pause und sagte dann in jenem halblauten Ton, auf den wir viel mehr lauschten als auf die Überdeutlichkeit der anderen Lehrer: »Den besten Aufsatz hat Großmann geschrieben; man könnte ihn, so wie er ist, drucken.« Dieses beinahe hingenuschelte Lobeswort ist für mein Leben entscheidend geworden, von diesem Augenblick an war ich Schriftsteller! Übrigens bin ich dem Thema des Grillparzerschen armen Spielmannes treu geblieben. Die Figur des Musikers, der ein Hubermann ohne Geltungsbedürfnis war, zu stolz, um nach dem Ruhm der Presse und des Publikums zu gieren, dieser Musiker von Natur, der lieber vor Kindern in der Brigittenau aufspielte als vor abgestumpften Zeitungsschreibern und Damen in Abendtoilette, dieser bedürfnislose Verschwender steht meinem Herzen heute noch so nahe wie damals in der Schulbank. Ich sehe ganz Österreich von vielen armen Spielmännern bevölkert, die aus ihrer Brigittenau nicht hinausfinden und nicht hinausfinden wollen! … Meinem gütigen Lehrer Franz Willomitzer habe ich als Schriftsteller noch viele Jahre jede Arbeit, die mir gelungen schien, zugeschickt, und er schrieb mir immer wieder ein paar verständnisvolle, selten auch ein paar lobende Worte dazu. Ich habe in meinem Leben Lob selten vertragen. Im Grunde bedeutet Lob eine noch größere Anmaßung als Kritik. Nicht vielen Menschen habe ich das Recht eingeräumt, mich zu loben, aber mein alter Deutsch-Professor Franz Willomitzer steht noch heute zuweilen hinter meiner Schulter und murmelt mir zu: »Klare Disposition, Großmann, das ist das Wichtigste.«
In der siebenten Realschulklasse, ein halbes Jahr vor der Matura, lief ich aus der Schule. Ich hatte kurz vorher eine Prüfung in Mineralogie abzulegen. In zwei Nächten hatte ich mir das Lehrbuch eingepaukt, ohne auch nur einen Stein vor Augen gehabt zu haben. So schnell wie ich