Was habe ich eigentlich in Berlin mit meiner Zeit getan? Wofür habe ich gelebt? Wo war ich denn? Meine Hauptbeschäftigung war es, Annie R. zu begleiten. Das Engagement im Wallner-Theater hatte sich im ersten Monat zerschlagen. Damals hatten die Theaterdirektoren das Recht, jeden Vertrag im ersten Monat zu lösen, und sie taten das gerade bei jungen Darstellern sehr gern, weil sie dann die verzweifelten Schauspieler, die für die Saison kein neues Engagement finden konnten, »aus Mitleid« für die halbe Gage wieder engagierten. Auch Annie R. hatte eine solche Trickkündigung empfangen. Sie lehnte sich gegen diesen Schwindel auf und klapperte sämtliche Theaterkanzleien Berlins ab, um ein anderes Engagement zu finden. Es war die erste Berührung mit der Theatergemeinheit, die das junge Mädchen erlebte. Sie verheimlichte ihr Mißgeschick vor ihren Wiener Leuten, und es war sicher ein Trost für sie, daß ich bei diesem demütigenden und nervenkraftfressenden Antichambrieren in den Theaterkanzleien sie zu begleiten suchte. Nachmittags saß man zusammen in dem bräunlichen Hotelzimmer Annies, das Lachen war ihr nicht ganz vergangen, und nach dem Rennen von Kanzlei zu Kanzlei tat es wohl, still beieinander zu sitzen.
Im übrigen wohnte ich bei Gustav Landauer. Ich hatte schon von Wien aus für seine Wochenschrift Der Sozialist geschrieben. Wir waren beide sehr jung, und schnell war das »du« zwischen uns ausgesprochen. Ich sehe Landauer noch vor mir, wie er damals war. Noch um einen Kopf länger als ich, ein etwas lockiges Haupt mit einem gut gepflegten Christusbärtchen, darüber ein reizend geschwungener, ich kann nicht anders sagen als kußlicher Mund, ein kleines lustiges Näschen, auf dem zuweilen ein kapriziöser Kneifer saß. Landauer hatte, übrigens bis zu seinem Ende, eine Vorliebe für jenes romantische Kleidungsstück, das man Havelock nannte. Damals stellte Fritz von Uhde ein Christusbild aus, das Jesus unter den Seinen in der damals modernen Tracht, aber doch ein wenig romantisierend, also im Havelock, darstellte. Eine solche Christuserscheinung im Havelock ist Landauer, noch dazu mit seiner Vorliebe für breite malerisch gekrämpelte Hüte, bis in seine letzten Tage geblieben. Aber während er in der letzten Phase seines Lebens, mag sein durch Leiden, die er in übergroßem Maße zu überstehen hatte, mag sein aus einer Märtyrerkoketterie, die ihm nicht ganz fehlte, ein duldendes Christusantlitz zur Schau trug, war sein Gesicht damals in den letzten Jahren des neunzehnten Jahrhunderts nicht ohne Heiterkeit. Vor allem sprach es deshalb an, weil die Szenerie des Gesichts sich blitzschnell verändern konnte, von Schelmerei zur Schwermut und ebenso geschwind wieder zurück. Den entscheidenden Ausdruck aber bekam sein Gesicht, wenn er den Kneifer abnahm und sein kurzsichtiges Auge etwas Unfixiertes, Leeres, in der Luft Herumtastendes bekam. So war er: in die Wirklichkeit verirrt, so ist er geblieben: Er hat sich bis zuletzt in die gemeine Realität nicht hineinfinden können. Damals hatte er seinen ersten Roman herausgegeben, der hieß Der Todesprediger. Wäre er mir zwei Jahre früher in die Hände gefallen, so hätte er wahrscheinlich wie Mainländers Philosophie der Erlösung auf mich gewirkt. Jetzt, da ich mich glücklich von der Selbstmordromantik losgerungen hatte, wirkte der Roman etwas fade auf mich. Aber dafür gab es ein anderes Band, das mich mit Landauer fest zusammenknüpfte. Der Sozialist wurde erhalten und verbreitet von der Gruppe Berliner Unabhängiger, die die Polizei als Anarchisten bezeichnete. Auf dieser Bettelsuppe gab es nur wenige Fettaugen. Die drei oder vier besten Geister standen als Helfer neben Landauer. Er selbst aber war von seiner eigenen Gruppe verfemt. Landauer, übrigens ein Sprachkünstler ersten Ranges, gab dem Sozialist sein Gesicht. Es war das führende Blatt des jungen undogmatischen Sozialismus.
Gericht und Polizei saßen ihm im Nacken. Landauer wanderte wiederholt ins Gefängnis, obwohl er nie auch nur eine einzige blutrünstige Zeile geschrieben hat. Er lebte mit seiner jungen Frau – er hatte eine tuberkulöse Proletarierin geheiratet, eine sehr liebenswerte und gütige Kameradin – und mit seinem kleinen Töchterchen draußen in dem Vorort Pankow, der damals noch ganz abseits vom berlinischen Lärm lag. Landauer, der aus dem Schwäbischen stammte, hat sich zeitlebens den Sinn für Stille bewahrt. Er konnte es nie in der Großstadt aushalten. Übrigens hatte er eine schrullige Vorliebe für die Arbeit in der kleinen Gemeinde. Er verachtete den Parlamentarismus, aber er wäre ganz gern Gemeinderat von Pankow geworden.
Meine Übersiedlung nach Berlin kam ihm gelegen. Er konnte mich als Gehilfen beim Sozialist gebrauchen. Gefängnis drohte ihm immer wieder, und er hatte eigentlich nur eine Stütze, seinen Freund, den Schriftsetzer Albert Weidner, der der Polizei soviel Kopfzerbrechen verursacht hat, weil sie manches Manuskript trotz eifrigen Suchens nicht finden konnte. Es existierte nämlich gar nicht. Weidner hatte die Fähigkeit, seine Beiträge aus dem Hirn direkt in den Setzkasten zu übertragen. Besonders willkommen war ich Landauer aber auch deshalb, weil damals gerade wieder ein »Sklavenaufstand« – um mich der hier vielleicht deplacierten Terminologie Nietzsches zu bedienen – gegen den Führer Landauer einzusetzen drohte. Es ist überall dasselbe in den großen Parteien wie in den kleinen Gruppen, in der Weltgeschichte wie im engen Familienkreise: Der Bedeutende ist im Grunde der Verhaßteste. Die Mittelmäßigen fühlen sich nur ganz wohl und sitzen in Hemdärmeln da, wenn sie unter sich sind. Wenn sie spüren, daß einer übers Mittelmaß reicht und keine Fabrikware der Natur darstellt, so bringen sie ihm Mißtrauen und einen kleinlichen Neid entgegen. Nichts wäre natürlicher, als daß der Größere, der reicher Begabte der Führer ist. Nichts ist unnatürlicher, als daß er sich fortwährend umdrehen muß, damit ihn die Gefährten nicht hinterrücks überwältigen. Jeder Führer erlebt ein Stück vom Schicksal Coriolans. Diese Verschwörung der Stumpfen gegen den Beweglicheren, der Phantasielosen gegen den Phantasten, der Bürger gegen die Persönlichkeit verbitterte dem jungen Landauer die Freude an der Arbeit. Er war von Natur aus antidemokratisch, und nun lieferte dieser Aufstand der anarchistischen Philister die stärkste Begründung für seinen Instinkt. Alles gärte noch in dem jungen Menschen; von seinem Todespredigertum war er selber schon weit entfernt. Die radikale Großmäuligkeit – und vielfach bedeutet ja Radikalismus nur gewohnheitsmäßiges Benutzen des Lautsprechers –, er hatte das alles über. Von allen Parteien ist die anarchistische Partei die sinnloseste. Anarchismus als tollkühne Vorreiterpolitik eines Einzelnen kann Sinn haben: es muß im Kriege Nachtpatrouillen geben, die auf eigene Rechnung und Gefahr handeln. Aber Anarchismus als Vereinsfunktion oder gar als Vereinsausflug, das erwies sich als ebenso lächerlich wie sinnlos. Dagegen begegneten Landauer und ich um diese Zeit einem unvergleichlichen Mann, der aus dem sächsischen Heere kam. Es war ein Oberst, der den Dienst quittiert hatte, Moritz von Egidy. Man sah dem kleinen energiestrotzenden Mann auf hundert Schritt den früheren Reiteroffizier an. Seine Rede war militärisch knapp, seine Schreibe war vollkommen phrasenlos. Er hatte ein Buch herausgegeben Ernste Gedanken, das die Frucht einer vollkommen selbständigen inneren Entwicklung darstellte. Egidy hatte in Sachsen, wo er in der Nähe des Königs lebte, plötzlich die Verwüstungen des Industrialismus wahrgenommen. Es bedrückte ihn ebensosehr, daß der Waldbestand von Sachsen innerhalb von drei Jahrzehnten auf ein Drittel seiner natürlichen Ausdehnung zurückgegangen war, wie es ihn erschütterte, wenn er bei den Musterungen das kleine Längenmaß der jungen Menschen wahrnahm, die alle Degenerationsmerkmale des jugendlichen Fabrikarbeiters aufwiesen. War es nicht sinnlos, herrliche Wälder niederzuschlagen, um auf dem gewonnenen Papier miserable Zeitungen zu drucken? Was sollte die virtuoseste Textilmaschine, wenn der Brustumfang des Menschen, der sie bedient, kleiner und seine Widerstandslosigkeit gegen die Tuberkulose größer wird. Egidy hatte die herrliche Frische eines Menschen, der sehr wenig gelesen hat, sein Auge war unbestechlich und glänzte vor innerer Rechtschaffenheit. Mit Landauer traf er sich in der Verachtung des Parteiwesens, in einer glühenden Aktionslust und in einem Mangel an Skeptizismus, den beide noch bitter gebüßt hätten, wenn der eine, Egidy, nicht jählings nach einem kurzen kometenhaften Aufstieg gestorben wäre, und wenn der andere, Landauer, nicht rechtzeitig sich von allen Genossen getrennt und von seiner zweiten Frau, der Dichterin Hedwig Lachmann, in eine stillere Welt gelenkt worden wäre. Eine gewisse Pädagogenstrenge war damals in Landauer noch nicht stark ausgebildet. Der stirnrunzelnde Revolutionär