Mein Aufenthalt in Paris mußte jäh abgebrochen werden. Eines Abends fand ich auf dem Tisch meines Hotelstübchens einen Brief aus Wien vor, in dem ich dringend aufgefordert wurde, an das Krankenbett meines Vaters zurückzukehren. Am anderen Morgen traf ein Telegramm meiner Mutter ein, kein Zweifel, wenn meine Mutter sich Telegrammkosten machte, dann mußte das Leben meines Vaters in höchster Gefahr sein. Ich hatte zum Glück gerade einen größeren Bücherfang gemacht und trug das Geld zur Heimreise in der Tasche. Am Abend saß ich im Zuge. Damals wäre ich in Verlegenheit gewesen, wenn ich irgend jemand hätte erklären sollen, warum ich an meinem Vater hing. Rational sind ja solche Regungen schwer zu analysieren. Soll ich diese unzerstörbare Anhänglichkeit heute erklären, so ist es wohl das stumme Orientalentum meines Vaters, um dessentwillen ich ihn liebte. Dieses von allen geschäftigen Geistern verurteilte und verdammte stundenlange Sitzen und in die Luft schauen, diese Unfähigkeit, geschäftlich zu denken, dieses frei sein von Zweckspekulationen, mit einem Wort, der gelassene Fatalismus seines Wesens erfreut mich noch heute. Viele Jahre später bin ich in der Türkei und in Ägypten Orientalen begegnet, die Verwandte meines Vaters hätten sein können, Leuten, die mit überkreuzten Beinen stundenlang, das Mundstück der Nargileh zwischen den Zähnen, dasitzen und vor sich hinbrüten konnten. Ihre Aktionslust ist für europäische Begriffe empörend gering, aber wer sagt denn, daß die europäisch-amerikanische Aktivität vor der abgründigen Ruhe eines beschaulichen Orientalen bestehen kann. Jedenfalls haben diese gelassenen Philosophen des Nichtstuns eine Würde, die kein eilfertiger Geschäftsmann der Wallstreet oder des Kurfürstendamms je erreichen kann.
Die Reise nach Wien paßte irgendwie in meine innere Route. Während meines Pariser Aufenthaltes muß wohl die Melancholie der Pubertätsjahre ihren Höhepunkt erreicht, oder um mit den Vokabeln der heutigen Geheimwissenschaft zu reden, meine innere Sekretion muß sich allmählich geändert haben. Die Periode des mönchischen Daseins näherte sich ihrem Ende. Ich wollte nicht länger abseits von den Kämpfen als ein pathetischer Negierer stehen. Damals ging es in Österreich sehr aufgeregt zu. Der Kampf ums Wahlrecht, der mir anfangs so gleichgültig gewesen war, wurde mit einem Elan geführt, der die Massen mitriß. In einer großen Versammlung im Prater hatte ein Arbeiterführer das Wort »Generalstreik« in das Wiener Volk geworfen. Schon in Paris hatten mein Freund Huber und ich viele Abende mit nach der Heimat gerichteten Gedanken und Gesprächen verbracht. Wenn der Wahlkampf imstande war, die Arbeiterschaft so zu entflammen, daß sie zum Generalstreik schreiten wollte, dann war es Unsinn, dieser Volksbewegung sich zu widersetzen, dann mußte man vielmehr mitten in die Strömung springen. Es ist übrigens niemals zum Generalstreik in Österreich gekommen. Alle wirklich glücklich geführten Generalstreiks haben gesiegt, ehe sie ausgeführt wurden. Das Hinreißende am Generalstreik ist die Drohung, das Schwierige die präzise Durchführung auf ein vereinbartes Kommandowort, und das Allerfatalste der rechtzeitige geordnete Rückzug. Fügt sich der Staat oder die herrschende Klasse dem Generalstreik, dann ist nicht einzusehen, warum er nur wegen des bißchen Wahlrechts gemacht werden sollte. Deshalb bedeutet der Generalstreik eine große Generalprobe. Unsere österreichischen Arbeiterführer, vielleicht die klügsten des Kontinents, wußten wohl, daß der nützlichste Gebrauch der Generalstreikidee nicht ihre Ausführung, sondern ihre Ankündigung sei.
Ich kam am Abend am Wiener Westbahnhof an; auf der Reise hatte ich buchstäblich den letzten Centime verbraucht, ich hatte nicht einmal Geld übrig, um in einer Straßenbahn den weiten Weg vom Westbahnhof zu der Wohnung meiner Eltern zu fahren. Einundeinehalbe Stunde lang schleppte ich mich durch die abendlichen Straßen Wiens, mein kleines Köfferchen in der Hand. Auf diesem etwas schwermütigen Heimweg begegnete ich einem jungen Freunde, den ich damals erst verhältnismäßig flüchtig kannte; es war ein hübscher blonder Mensch, mit einem schmalen, sanften Gesicht, das zeitweilig von einem kleinen Spitzbärtchen umrahmt war. Er hieß Alfred Polgar. Ein paar Häuser von meinem Ziel entfernt, begegnete ich ihm. Mein Arm war müde geworden. Er begrüßte mich mit einem zurückhaltenden Lächeln, das vielleicht ein bißchen Freude andeutete, vielleicht auch ein bißchen Mitleid über den kläglichen Aufzug des Heimkehrenden. Jedenfalls nahm er mir das Köfferchen aus der Hand und trug es mir bis vor das Tor des Elternhauses. Das sind nun schon über drei Jahrzehnte her, aber dieses Lächeln ist ihm geblieben, dieses leichte, freundliche Lächeln, das aus ein bißchen Freude und ein bißchen Mitleid gemischt ist, und meinen kleinen Sorgenkoffer hat er mir noch manchesmal tragen helfen.
In der Wohnung meiner Eltern traf ich den Vater schwer keuchend zu Bett. Jeder Atemzug bedeutete eine ungeheure Leistung des großen Körpers, ein Rasseln aus dem Brustkasten verkündete, daß die Maschine nicht mehr lange funktionieren könne. Ich mußte meinem Vater versprechen, einen bürgerlichen Beruf anzunehmen und eine gemeinsame Wohnung mit meiner Mutter zu beziehen. Beides tat ich, weil es ihn erleichterte. Beide Wünsche habe ich erfüllt, solange ich konnte.
Ich sah jetzt Wien mit helleren Augen. Mit meinem Freunde Polgar und einigen anderen jungen Menschen wanderte ich jeden Nachmittag in den Prater, oder wir fuhren nach Dornbach oder Sievering hinaus, in diese entzückenden stillen kleinen Orte der Wiener Umgebung, die ich damals erst recht entdeckte. In mein Epigrammheft schrieb ich den Vierzeiler :
O diese goldenen Tage!
Ich gehe im Frühlingsblaun
Durch grüne bräunliche Wälder
Und – lerne die Welt anschaun.
Durch die Verwandtschaft meines Vaters wurde ich in dem mathematischen Büro der Vereinigten Versicherungsgesellschaften Österreichs untergebracht. Wenn alte Männer am Stammtisch sitzen und sich ihrer Dienstzeit rühmen, so könnte ich nur diese zwei Jahre Beamtenlaufbahn als höchste Willensleistung anführen. Jeden Morgen ging ich knirschend in das Amt, und ich spüre heute noch deutlich die helle Verzweiflung, die mich packte, wenn ich aus einem goldenen Morgen in den kühlen Schatten des Bürohauses eintrat. Sechs Stunden an einem Schreibtisch mit einer Arbeit verbracht, die ich in Freiheit bequem in eineinhalb Stunden hätte erledigen können; diese sechs Stunden schaler Witzelei mit gegenübersitzenden, gabelfrühstückkauenden Kollegen bedeuteten jeden Tag ein erneutes Opfer. (Essen außerhalb der Mahlzeit war mir immer widerwärtig.) Der Aufenthalt im Büro wurde dadurch erträglicher gemacht, daß ich allmählich lernte, zwischen Tarifrechnungen und Direktionskorrespondenz einen oder den anderen Artikel für eine radikale Arbeiterwochenschrift zu schreiben. Einmal hatte mich der Generaldirektor bei einer solchen Privatarbeit erwischt, den Bogen an sich gerissen, um zu lesen, was ich denn eigentlich verfasse. Mit einem Sprung nach oben hatte ich ihm mein Manuskript entrissen. Meine Bürokollegen, um ihre Existenz bangende Schreiberseelen, sahen mich mit Bewunderung an. Wie hatte ich es nur wagen können, dem Herrn Generaldirektor einen Bogen aus der Hand zu reißen?
Der Aufsatz, den ich geschrieben hatte, war für eine Wochenschrift bestimmt, die den nicht ganz neuen Titel Die Zukunft trug. Sie wurde von den sogenannten Unabhängigen, den links von der Sozialdemokratie stehenden Arbeitern, herausgegeben, und eine Menge begabter junger Leute haben dort mit mir ihre Sporen verdient. Der Kunsthistoriker Dvorak, später eine Leuchte an der Wiener Universität, Alfred Polgar, Willi Handl, der Dramaturg der Reinhardtbühnen Arthur Kahane, der Musikkritiker Dr. Max Graf haben dort angefangen, und zwar nicht mit literarischen Delikatessen, sondern mit politischen und satirischen Arbeiten, deren beste Eigenschaft ihr unbewußter Ernst war. Fast jede dieser Nummern der Zukunft wurde vom Staatsanwalt konfisziert. Manchmal waren wir selber verantwortliche Redakteure, und ich habe so mit zwanzig Jahren meinen ersten Prozeß und Freispruch erlebt. Ich habe übrigens trotz unzähliger Prozesse nicht einen einzigen Arresttag erlebt. Bis auf einige unwesentliche Geldstrafen bin ich immer wieder mit einem Freispruch davongekommen. Ich rühme mich dessen nicht, weil ich damit eine besondere Kämpfergeschicklichkeit nachweisen will, sondern ich erwähne es, weil ich im großen ganzen doch nur dort geschossen habe, wo ich ins Schwarze zu treffen wußte. Ein Erlebnis bei einem dieser Prozesse gegen die Zukunft macht mir heute noch Spaß. Der verantwortliche Redakteur war damals ein tiefsinniger böhmischer Schuster. Die deutsche Sprache machte ihm Schwierigkeiten, und er brauchte deshalb immer eine gewisse