Marylin. Arthur Rundt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Arthur Rundt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783903005495
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nicht: »Haben Sie einen anderen gern?« oder: »Was steckt hinter alledem?«

      Philip machte ein paar Schritte auf Marylin zu. Die kleine Hand auf der Tischplatte paßte nicht zu dem schmalen Gelenk, sie war eine volle, rundliche Hinterhand mit zwei Grübchen auf dem Rücken.

      Philip sah von der Kinderhand aufwärts in Marylins Augen, die geweint hatten. Sein stummer Blick sagte: »Hab’ keine Angst, Baby!« Und: »Später einmal, aber nur, wenn du es ebenso wollen wirst wie ich, werden wir eine kleine Wohnung haben, und wir werden Kinder haben, und dann werden wir die Wohnung gegen eine größere wechseln, in einer besseren Gegend, und dann das gleich noch zwei- oder dreimal, so oft ich es eben dahin bringen werde, daß wir einen Schritt höher klettern.« Alles das sprach aus seinem zuversichtlichen Blick.

      Wenn ein zum Tode Verurteilter in seiner letzten Minute den Henker anschaute, sein Blick wäre dem Marylins ähnlich, der zu fragen schien: »Warum ist es gerade dieser? Ich hab’ ihm doch nichts getan.«

      Dann sprach Philip das erste Wort: »Ich werde hier bleiben, Miß Palmer, in New York und bei Ihnen. Aber ich werde Sie nicht quälen. Ich werde warten, bis wir einig sind. Sind Sie damit einverstanden?«

      Sie zögerte nur ganz kurz, dann nickte sie mit dem Kopf.

      Aber im nächsten Moment wandte sie sich ab und begann wild zu schluchzen. Philip sah das Zucken, das ihren Körper durchschüttelte; zuletzt hob und senkte sich nur noch der Rücken, dann wurde sie ruhig.

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      Philip blickte auf die Uhr. Sie waren am späten Nachmittag angekommen, jetzt war es dunkel geworden. Er zog an der kleinen Kette des Beleuchtungskörpers, der von der Decke herabhing, und es wurde hell. »Sie waren während der Reise nur ein einziges Mal im Speisewagen, Miß Palmer, Sie müssen was essen. Ich denke, wir wollen hinuntergehen.«

      In dem kleinen Restaurant sprachen sie so wenig wie Leute, die seit langer Zeit täglich um die gleiche Stunde miteinander die Mahlzeit einnehmen und sich nach einem ereignislosen Tag nichts zu erzählen haben. Sie saßen am Ende eines langen Tisches einander gegenüber; mitten im Essen mußten beide zu gleicher Zeit lachen, aus Müdigkeit, aus Erregung oder weil sie von der Selbstverständlichkeit, mit der sie hier saßen, überrascht waren, vielleicht auch in einem Wohlgefühl, ähnlich jenem, mit dem man nach einer Seefahrt die erste Mahlzeit am Lande einnimmt.

      Als sie fertig waren, griff Philip nach den beiden kleinen Rechenzetteln, die die Kellnerin neben ihre Teller gelegt hatte. Marylin wehrte sich gegen seine Absicht, mit beiden Zetteln zur Kasse zu gehen und zu zahlen. Aber Philip erklärte: »Von morgen an wird jeder das seinige erledigen. Heute müssen Sie es mir schon erlauben, heute sind Sie mein Gast, Miß Palmer. Denn Sie sind ja meinetwegen und mit mir hierher gereist.« Da lachten beide noch einmal und Philip durfte zahlen.

      Die große Seidenstrumpffabrik von Indianapolis im Staate Indiana hatte auch in New York ein Verkaufsbureau. Freilich hatte Marylin, als sie in Cleveland, durch Philips Brief aufgeschreckt, die Stellung so plötzlich verließ, nicht daran gedacht, sich ein paar Zeilen an den New Yorker Manager mitgeben zu lassen; sie hätte es auch nicht gewagt, da sie so plötzlich fortging, daß sie nicht einmal das Ende der Woche abwartete.

      Während sie hinter der Barriere stand, sah Marylin, daß sich hier alles genau so abspielte, wie sie es von Chicago und Cleveland her kannte. Die Bestellungen der Kaufleute und Privatkunden wurden auf Formulare übertragen, mit Rubriken für die Sorten und für die Größen, für die Anzahl der bestellten Paare und für die Farben, die ihr alle geläufig waren: Malve, Melone, Rosagrau, Champagne, Mondschein und Atmosphere. Es wurden ebensoviele Blätter Carbonpapier zwischen die Formulare gelegt wie in Chicago und Cleveland, sie hielten auch hier bei der »Fünften Jahres-Rabatt-Offerte«, die dem Käufer progressiv immer mehr Freipaare gewährte, je größer sein Auftrag war.

      Daß Marylin alles das wiedersah, steigerte ihre Sicherheit für die Unterhaltung mit dem Manager. Als sie hineingerufen wurde, begann sie sofort: »Ich bin erst gestern abend in New York angekommen, ich habe schon in anderen Bureaus der Real Silk gearbeitet und kenne die ganze Organisation, alles, auch die ›Fünfte Jahres-Rabatt-Offerte‹. Ich bleibe jetzt ständig in New York. Wenn Sie mich brauchen könnten, würde ich gern schon am Montag anfangen.«

      »Kommt mir ganz gelegen«, sagte der Manager, der ihre Angaben sofort als zuverlässig erkannte. »Wieviel haben Sie …«

      »In Cleveland.«

      »… in Cleveland pro Woche bekommen?«

      »Fünfundzwanzig Dollar.«

      »Also gut, das gleiche. Und – seit wann sind Sie aus dem Clevelander Bureau fort?«

      »Erst seit Mittwoch, Sir. Ich – mußte plötzlich von Cleveland weg.«

      »Hm – warum? Ich hoffe, es ist …«

      »Nein, es hat nichts Unangenehmes gegeben. Es ist nur – es ist jemand hier in New York, der mich heiraten will und deshalb … aber bis dahin wird’s noch eine gute Weile dauern, ja.«

      »Also, am Montag früh, das ist ja schon übermorgen. Vergessen Sie nicht, draußen Ihren Namen und Ihre Adresse anzugeben. Wiedersehen.«

      Sonntag vormittags kam Philip in Marylins Zimmer, die beiden wollten zur Kirche gehen. Da sie fremd waren, erkundigten sie sich bei Mrs. Perkins, die ihnen ihre Kirche nannte.

      Es war ein kleiner romantischer Bau; der Geistliche, ein junger Mensch, predigte über den Herbst als die Zeit der Ernte und Erfüllung. Die beiden waren von der Predigt wenig befriedigt, weil sie schwunglos war und ohne Beziehung zu den Dingen des Lebens. In Chicago, meinten sie, gab es bessere Prediger.

      Dann gingen sie eine Weile planlos durch die Straßen. Nach einem leichten Lunch beschlossen sie, in die untere Stadt zu fahren, um von der Spitze der Landzunge Manhattan aus den Hafen zu sehen und auf dem Weg dorthin das Viertel von Wall Street.

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      Sie nahmen die Tramway, die den Broadway entlang geht. Sie wunderten sich, daß sie die einzigen Passagiere im Wagen waren. Was taten denn die Millionen New Yorker um diese Zeit, um die Mittagsstunde eines sonnigen Herbsttages? Wo waren sie denn? Warum sah man so wenige Menschen auf der Straße?

      Je niedriger die Nummern an den Broadway-Häusern wurden, umso stiller war es. An der Trinitaskirche stiegen sie aus und bogen in die Wall Street ein, und dann in die Broad Street und dann in die Beeaver Street und spazierten so im Kreis herum. Überall waren sie die einzigen Menschen.

      Sie gingen wie durch eine tiefe, einsame Schlucht. Hoch über ihnen hing mit gezackten Rändern ein Streif des klarblauen New Yorker Himmels. Auf der einen Seite waren die obersten Stockwerke der Riesenhäuser von der Mittagssonne grell beschienen, alles andere lag in tiefgrauem Schatten. Die Asphaltsohle der Schlucht war kühl.

      Sie hatten unwillkürlich das Trottoir verlassen, gingen mitten auf dem Straßendamm. Nirgends, nirgends ein Mensch zu sehen. Ihre Schritte hallten durch die Stille.

      Marylin dachte an einen Ausflug ins Gebirge, den sie einmal gemacht hatte, als sie noch im Westen war. Damals war sie auch durch eine Schlucht gegangen, von der vorher viel gesprochen wurde als von dem schönsten und seltsamsten Teil der Partie. Dort war’s ebenso frostig, aber man ging über moosbewachsene Steine, die steilen Seitenwände waren zerklüfteter Fels, oben lief zwischen Stein und Himmel ein grüner Saum entlang. Hier war’s unheimlicher.

      Philip sagte: »Das ist Wall Street. Hier haben sich gestern mittag die Menschen gedrängt, so daß man nur mühsam vorwärts kam, und morgen früh wird’s wieder so sein. Wir hätten vielleicht nicht am Sonntag hierherkommen sollen. Man glaubt kaum, daß in diesen toten Häusern die größten Banken der Welt ihren Sitz haben. Nicht wahr, Miß Palmer?«

      Dann fanden sie den Ausweg aus dem steinernen Irrgarten, gelangten zum Battery Park, besichtigten im Vorübergehen das Aquarium und saßen am Ende eine Stunde lang auf einer Bank vorn am Wasser.

      Philip