Marylin. Arthur Rundt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Arthur Rundt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783903005495
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fiel sein Blick auf einen Briefumschlag, der an die Mauer gelehnt war. Das Wort »Chicago« und auch die Straße und die Hausnummer waren durchgestrichen, andere Worte und Ziffern danebengeschrieben. Er las: »Miß Marylin Palmer …« Aber er konnte nicht weiterlesen, weil hinter dem Gitter wieder das Licht des Lifts erschien und bald darauf der Schwarze.

      »Verzeihung, bei wem hat Miß Palmer gewohnt oder – können Sie mir ihre Adresse sagen?«

      »Jaa,« kam es in strahlender Bereitwilligkeit zurück, »jaa, natürlich, hab’s aufnotiert, brauch’ aber gar nicht nachzusehen, hier ist noch ein Brief, heut’ früh angekommen. Hier: 12. Ontario Street. Room 1312. Cleveland, Ohio.«

      »O, danke vielmals.« Und indem er die Adresse notierte: »Wann ist sie denn abgereist?«

      »Vorgestern früh, hab’ ihr den Koffer zum Wagen gebracht. Ganz früh, der Kerl vom Nachtdienst war noch nicht fortgegangen. Sehr unerwartet, vielleicht eine Familiengeschichte oder –«, er zog die Achseln hoch und zündete sich eine Zigarette an. Dann fuhr er, da Philip noch immer dastand, redselig fort: »Miß Palmer hat nicht lange bei uns gewohnt, aber – so ein liebes Mädel! So pünktlich, jaa!«

      Eine Stunde später saß Philip in seinem Zimmer an der kleinen Schreibmaschine und schrieb an sie.

       Liebe Miß Palmer!

      Ich habe Ihnen alles gesagt, aber Sie haben mir nicht gesagt, daß Sie verreisen. Sind Sie abgereist, weil ich zu Ihnen über meine Zukunftspläne gesprochen habe? Ich weiß es nicht genau, aber vielleicht ist es so. Bitte, seien Sie so freundlich, mir bald zu schreiben. Ich will meine Stellung aufgeben und auch nach Cleveland kommen, ich werde dort bald eine neue finden und sicher keine schlechtere. Ich muß hier noch eine Arbeit fertig machen, die eine Woche in Anspruch nimmt, es kann auch etwas länger sein, dann könnte ich sofort kommen. Bitte schreiben Sie mir bald.

       Sehr aufrichtig der Ihrige

      Philip E. Garrett.

      Die Antwort kam so schnell, als sie nur kommen konnte.

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      Marylin schrieb, daß sie im Bureau der Clevelander Niederlassung jener Gesellschaft arbeite, bei der sie auch in Chicago war.

      Aber, lieber Mr. Garrett, ich bitte Sie um Himmelswillen, Ihr Office nicht zu verlassen und mir auch nicht mehr zu schreiben. Warten Sie eine Weile, vielleicht bekommen Sie eines Tages wieder einen Brief von mir. Sie haben recht, ich mußte von Chicago fort, ich kann Ihnen nicht mehr sagen, aber jeder Mensch hat sein eigenes Leben.

      Der Brief war mit der Hand geschrieben und noch kürzer als der Philips, es waren kaum zehn Zeilen.

      Marylin hatte auch in Cleveland ein Zimmer für sechs Dollar wöchentlich gefunden, das kaum anders aussah als jenes in Chicago. Sie hatte schnell ihren Koffer ausgepackt und alles geordnet. Wieder standen die drei Flakons links auf ihrem Toilettetisch, rechts die beiden Dosen, darüber hing neben dem Spiegel das Bild des Vaters mit den Feldblumen am Rahmen. Sie hatte ihr Geld zur Bank getragen, das sie vor der Abreise abgehoben hatte. Die Reise und alles, was dazukam, hatten ihre Ersparnisse um mehr als dreißig Dollar vermindert. Bevor sie das Bankbuch zu den Dokumenten ins unterste Fach des Koffers legte, warf sie einen mehr schmerzlichen als ärgerlichen Blick auf die kleiner gewordene Ziffer.

      Sie hatte auch hier mit ihrer Wirtin vereinbart, um sieben Uhr abends in der Küche zu essen, zwischen ihrer Heimkehr und dieser Mahlzeit saß Marylin auch hier im Schaukelstuhl am Fenster, das in den Hof hinausging.

      Sie hatte ihre Stellung an einem Montag angetreten. Als sie am zweiten Mittwoch nachmittags ihr Office unruhigen Blickes und erregt verließ, bemerkte sie nicht, daß ein junger Mann in einem Regenmantel und mit einer kleinen Tasche sie unter dem Haustor erwartete und ihr, als sie eilig zur Tramway ging, folgte.

      Den Fünfzig-Dollar-Wochenlohn, von dem Philip gesprochen hatte, bezog er noch nicht lange. Bis vor einem Monat waren es nur vierzig Dollar gewesen.

      Der Architekt, bei dem er arbeitete, hatte in letzter Zeit ein paarmal hintereinander den Auftrag erhalten, Pläne für den Ausbau eines Blocks mit Reihenhäusern herzustellen. Das sind jene kleinen Einfamilienhäuser, die dort, wo der Grund nicht allzu teuer ist, von einer Straßenekke bis zur nächsten aufgestellt werden, alle völlig gleich und nebeneinander, ohne trennende Zwischenräume. Es gibt natürlich Typen für solche Häuserreihen; sie hatten in Philips Atelier ausgeschnittene Schablonen, brauchten die Baufläche immer nur auf einen gewissen Maßstab zu bringen, die gewählte Schablone aufzulegen, dann blieb alles weitere beinahe ausschließlich mechanische Arbeit.

      Zwei Generationen spekulativer Gehirne hatten an diesen Typenentwürfen gearbeitet. Trotzdem war Philip eine Verbesserung gelungen. Zwanzig Treppen wurden um eine Kleinigkeit gedreht und gekürzt, was die Stufen ein wenig steiler machte, zwanzig Rauchfänge wurden an einen anderen Platz gelegt. Die Änderung sah sehr geringfügig aus und bewirkte dennoch, daß für ein einundzwanzigstes Haus, freilich ein etwas schmäleres, Platz geschaffen wurde.

      Der Chefarchitekt hatte, als Philip ihm den Plan zeigte, den Arm auf Philips Schulter gelegt, und am nächsten Wochenende wurde ihm die Zulage angekündigt.

      Die Stellung aufgeben und dem Mädchen nachreisen, war ein großer Einsatz. Es konnte leicht ein vergebliches Opfer werden, denn es war möglich, daß Marylin noch einmal fliehen wollte. Es galt, ihr unausweichbar klarzumachen, daß eine weitere Flucht vergeblich war, ihre Schwäche – ihre Flucht war sicher Schwäche – in Hingabe zu wandeln.

      Vor seiner Abreise von Chicago hatte Philip auf dem Bahnhof einen Brief an Marylin in den Kasten geworfen, der seine Ankunft für den nächsten ankündigte, also für einen späteren als den wahren Zeitpunkt.

      Diesen Brief mußte Marylin soeben, kurz vor Bureauschluß, bekommen haben.

      Philip sah sie das Haus verlassen, sprang hinter ihr auf die Tramway, verließ den Wagen zugleich mit ihr.

      Er beobachtete das Haus, das sie betreten hatte, bis spät nachts, und war frühzeitig, als alle Straßen noch leer waren, wieder da.

      Gegen neun Uhr morgens ging Marylin aus, zum Bankgebäude im nächsten Straßenblock, von wo sie bald wieder heimkehrte.

      Marylin sah das Auto nicht, das eine halbe Stunde später dem ihrigen zur Bahn folgte, sah den jungen Menschen nicht, der ein paar Schritte hinter ihr stand, als sie die Karte nach New York löste.

      Bei der Ankunft in der Großen Stadt führte ihr Weg die Lexington Avenue entlang nach der unteren Stadt bis zur Gegend von Gramercy Park.

      Zweimal, an der 40. und an der 28. Straße, war ihr Auto von einem zweiten getrennt worden, das dicht hinterdrein fuhr.

      Aber als sie an ihrem Ziel neben dem Chauffeur stand und ihm zusah, wie er das Seil aufknotete, mit dem der Koffer angebunden war, trat Philip auf sie zu und reichte ihr harmlos die Hand: »Freue mich, Baby, daß Sie gut angekommen sind. Wollen erst das Gepäck zum Lift schaffen und dann weitersehen.«

       II.

      Marylin mietete bei der Witwe Perkins im achten Stock das drittletzte von sechs kleinen Zimmern, die an einem langen, dunklen Gang lagen.

      Philip stand dabei, während die kurze Unterhaltung über den Preis, über das Frühstück und die Badezeit geführt wurde.

      Mrs. Perkins sah, daß die beiden soeben erst in New York angekommen waren. Als alles erledigt war, hätte sie ein zweites Zimmer gern an Philip vermietet, aber Philip quartierte sich drei Stockwerke tiefer ein.

      Nach einer Viertelstunde kam er zu Marylin herauf. Sie hatte nur ihre kleine Handtasche mit den Toilettetaschen geöffnet, sie rief »Herein!« und stand wie wartend aufrecht da, die Hand nachlässig auf die Tischplatte gestützt.

      Sie fragte Philip nicht: »Warum sind Sie mir nachgereist?« oder: »Wie haben Sie es angestellt?« Sie sagte auch nicht: