Marylin. Arthur Rundt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Arthur Rundt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783903005495
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die Lückenlosigkeit seiner Maßnahmen sich selbst bestätigen, zog er sein Notizbuch heraus und schrieb die Straße und Hausnummer auf, wie er sie soeben festgestellt hatte.

      Jetzt wußte er, woher sie am Morgen kam, wohin sie am Abend ging.

      Er verfolgte sie nicht, er wollte nicht schnüffeln. Er wußte wenig von ihr, dennoch lag, was er wußte, wie eine Klammer um sie.

      Aber nun war es schwer, ihr näher zu kommen. Er konnte dieses fremde Mädchen nicht anreden. Er sah, daß alles verloren war, wenn er einen unüberlegten Schritt tat. Aber er zweifelte nicht daran, daß es am Ende doch einen Weg zu ihr geben werde.

      Gewiß ging sie in die Kirche, besuchte vielleicht an Sonntagnachmittagen die Zusammenkünfte der Gemeinde, an denen Tee getrunken, auch ein wenig getanzt wurde. Er hätte die Gemeinde herausfinden können und hätte es erreicht, zu einem solchen Sonntagnachmittag eingeladen zu werden. Aber das waren nicht seine Wege.

      Manchmal dachte er: Wenn sie in einem anderen Stadtteil wohnte, wenn ihr Office anderswo läge, wenn sie nicht auf dieser Strecke zur täglichen Arbeit fuhr, dann hätte er sie nie gesehen. Was für eine Art Schicksal ist das, das von solchen Zufällen abhängig ist?

      Wenn er sich ihr Gesicht oder ihre Art zu gehen vorstellte, so daß er sie fast leibhaftig sah, dann konnte er mit dem Fuß aufstampfen, wobei sich sein Gesicht zu Ungeduld und Unwillen verzog. Das waren häßliche Verzerrungen, harte Bewegungen. Aber es waren nur ungestüme Ausbrüche einer zarten Empfindung, die keine Gelegenheit hatte, sich anders auszudrücken.

      Philip kam täglich in den kleinen Laden, er grüßte beim Eintreten den Mann, der die Getränke mischte, und das Fräulein an der Kasse; manchmal, wenn Marylin gerade hinsah, machte er eine unentschlossene Bewegung gegen sie. Einmal hatte sie mechanisch mit dem Kopf genickt und dann schnell wieder in ihr Buch gesehen.

      Jetzt kannte sie ihn sicher schon.

      Philip blieb immer so lange da wie Marylin; hin und wieder zahlte er schnell, wenn er sah, daß Marylin sich zum Gehen anschickte, und trat vor ihr auf die Straße hinaus. Aber er blieb nie vor der Tür stehen, sondern ging sofort nach der Station zu, also in entgegengesetzte Richtung wie Marylin.

      Dann geschah es einmal, daß sie beide gleichzeitig zur Ausgangstür gelangten, daß Philip sie vorangehen ließ und daß sie draußen unwillkürlich stehen blieben, Philip, um den Kragen hochzuschlagen, Marylin, um den Schirm zu öffnen; denn es ging ein langsamer Herbstregen nieder.

      Da sagte Philip: »Schrecklich, der Regen will nicht aufhören, man muß froh sein, nach Hause zu kommen.« Marylin nickte, dann ging jeder seinen Weg.

      Das hätte Philip ebenso zu dem Mann hinter dem Bartisch sagen können oder zu dem Fräulein an der Kasse oder zu einem Nachbar in der Hochbahn. Diese Worte bedeuteten nichts, aber es waren doch die ersten Worte, die er zu ihr gesprochen hatte.

      Und als er am nächsten Morgen im Gedränge der Station Madison Street ihren Blick auffing, durfte er die Hand an den Hut legen, und Marylin mußte mit dem Kopf nikken. Und bald darauf, an einem der folgenden Tage auf dem Heimweg, flog es zwischen ihnen hin und her: »Wie geht’s?« und »Danke, gut!«

      Es war nichts, und es war doch alles.

      Denn als sie das nächste Mal wieder zugleich aus dem Laden traten und es nicht regnete, sagte Philip: »Wunderschöner Tag heute!«, und dann ging er nicht, wie sonst, zur Station, sondern an Marylins Seite nach der Richtung des Hauses, in dem sie wohnte.

      Es war nicht weit bis dorthin; aber ihm kam nicht der Gedanke, dieser kurze Weg müßte gut ausgenützt werden, er ging wortlos neben ihr her.

      Von seinem Bubengesicht war jeder Wandel abzulesen: zuerst die Mühe, seine Begleitung selbstverständlich erscheinen zu lassen, dann kurzes Zögern, dann, nachdem sie zwei Straßen überquert hatten, der Wille, jetzt alles klar und übersehbar vor ihr auszubreiten.

      Er sprach ohne Überlegung, aber auch ohne Zögern, obwohl er vorher nie daran gedacht hatte, was er ihr sagen wollte. Sie hörte, daß er täglich im selben Zug mit ihr zur Stadt fuhr und dann nachmittags wieder zurück, daß er sie jedesmal bei der Ankunft suchte und begleitete, daß er ihretwegen in den kleinen Laden kam.

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      Er sah sie, während er sprach, nicht an, sondern blickte geradeaus. Seine Hände hatten sich zu Fäusten geballt, aber er spürte nichts von der Erregung, die hinter seiner äußeren Ruhe lag. Er erwähnte noch kurz seinen Beruf und daß er im Bureau des Architekten fünfzig Dollar wöchentlich verdiente. Er machte keine sentimentalen Phrasen, aber jede Frau mußte aus seinen Worten leidenschaftlichen Ernst heraushören.

      Marylin ging neben ihm her wie jemand, dem unvermutet erklärt wird, er sei eines Verbrechens beschuldigt, und der nicht einmal weiß, um welche Art von Verbrechen es sich handelt.

      Kurz vor Marylins Haus blieb er stehen. Marylin wunderte sich nicht, daß er das Haus kannte, sie kam nicht auf den Gedanken, zu fragen, wieso er es kannte.

      Sie merkte, daß er sich verabschieden wollte, reichte ihm die Hand und ging, ihren Schritt ein wenig beschleunigend, die paar Schritte bis zur Tür, an der der Schwarze sie wie immer höflich grüßte.

      Am nächsten Morgen sah sie ihn nicht, aber am Nachmittag war er wieder da.

      Er ging vor ihr aus dem Laden und wartete, wie in einem stillen Einverständnis. Sie bogen diesmal nicht in die Straße ein, in der Marylin wohnte, sondern machten einen Umweg.

      In Marylin war während dieser Wege kein Widerstand. Er sprach von einer gemeinsamen Zukunft, von einer Wohnung wie jene, die er geträumt hatte.

      Dann ergab es sich von selbst, daß Marylin redete: von ihrem Bureau, daß sie noch nicht lange hier war und daß sie in Baltimore geboren sei.

      An einem Oktobertag, als die Sonne noch einmal, wie im frühen Herbst, arm herabschien, saßen sie auf der Bank eines Parks, und Philipp legte seine Hand auf die ihrige.

      Zwei Tage später war Marylin verschwunden. Philip sah sie am Morgen nicht und nicht am Nachmittag. Er suchte sie auch am nächsten Tag vergeblich.

      Nicht wahr, der Name einer geliebten Frau ist doch nicht das wichtigste an ihr?

      Du kennst ihren Gang, eine Bewegung ihrer Hand, du hast den Klang ihrer Stimme im Ohr. Oder gar: Du weißt, sie kommt an jedem Morgen auf die Minute zur gleichen Zeit eine Treppe hinunter, steigt die Treppe am Nachmittag wieder hinauf. Du kannst es manchmal im Gewühl der Gleichgültigen nicht erreichen, daß du neben ihr sitzt, aber dann am Ende kannst du neben ihr hergehen, darfst zu ihr sprechen, und sie hört dich widerstandslos an.

      Wie aber, wenn sie auf einmal nicht da ist? Wenn sie vielleicht geflohen ist, vielleicht gerade aus dieser Regelmäßigkeit geflohen, aus dem Zwang, dir zu begegnen, dich anzuhören?

      Wirklich, Philip kannte den Namen des Mädchens nicht, das sein Ziel, seine Zukunft war. Jetzt half ihm auch die Vorsicht nichts, daß er eines Tages das Haus ins Notizbuch geschrieben hatte, in dem sie wohnte. Scheinbar war sie auch aus dem Hause verschwunden.

      Der Liftführer stand, gegen die Mauer gelehnt, am Tor, grüßte alle, die eintraten, verschwand mit ihnen im Aufzug und führte sie hinauf. Oder er holte, wenn das Glokkenzeichen kam, Fortgehende aus ihrem Stockwerk ab. Er stand vor der Haustür, verschwand und kam wieder.

      Philip glaubte nicht einen Augenblick an einen Zufall oder daran, daß sie vielleicht krank war. Er wußte, sie war fort.

      Jetzt eben war der Schwarze wieder ins Haus getreten, mit einer älteren Dame, die ein Kind an der Hand führte. Philip sah das matte Licht des Fahrstuhls nach oben verschwinden, dann trat er rasch in den halbdunklen Flur.

      Rechts hinten in einem Winkel brannte eine Birne über einem kleinen Tisch vor dem Schaltkasten des Telephons. Auf dem Tisch lagen Papiere, ein Federhalter und Bleistift, seitwärts ein zerlesenes, aufgeschlagenes Bibliotheksbuch. Der Stuhl vor dem Tisch war ein wenig zur Seite gerückt. Es war der Ruhe- und Arbeitsplatz des Schwarzen.

      Philip