Nach kurzer Pause, in der er mich nur stumm ansah, fuhr Waldemar mit leiser Stimme fort, und diesmal liess ich ihn ausholen:
«Damals, als wir auswanderten, hat Rös von Norbert erzählt, von seinem Schweigen, von der bedrückenden Stimmung, die er verbreitete, seinen Ansprüchen, seiner Art, wie er eure Mutter beleidigte, seine Schimpftiraden auf die Leute in der Fabrik, seine Wutanfälle auf Politiker und Autoritäten, wobei er offenbar nie handgreiflich, nie wirklich grob wurde, einfach lärmte oder schmollte.
Dann kam eine Phase, in der Rös von ihm geradezu schwärmte, wie er sich pflegte und wie eitel er sein konnte, auf sein Äusseres achtete, sich wie ein Gentleman benehmen und auch reden konnte, weit über dem Niveau, in dem er eigentlich lebte. Von daher kam seine Bitterkeit, weil er sich zu Besserem als Chauffeur oder Vorarbeiter berufen fühlte, und darum ihre oft unvermittelte, absurde Anhänglichkeit, weil sie sozusagen mit ihm gemeinsam über die groben Herabsetzungen in seinem erbärmlichen Leben trauerte. So lernte ich ihr Verhältnis zu Norbert kennen. Meine Sicht wollte bisher niemand teilen, ich verstehe zu wenig davon, so blieb bisher alles an mir hängen …
In unserem ersten Jahr in Amerika litt Rös an starkem Heimweh. Sie hörte die Stimme der verstorbenen armen Schwester und wollte zu ihr zurückkehren, ihr Grab besuchen. Sie glaubte, du, ihr Bruder, spiele im Nebenzimmer Trompete. Sie öffnete die Tür, um nachzusehen, so echt waren ihre Halluzinationen. Dann wieder sehnte sie sich nach eurem Vater. Ich erinnerte sie daran, wie ihr die Mutter geholfen hatte, von zu Hause wegzukommen, um Rös von ihrem Vater zu trennen, sie vor ihm zu schützen, und wie ihr Vater Rös mit Schweigen für nichts bestrafte, für nichts, weil er ihr nie sagte, welche Vorwürfe er ihr insgeheim machte. Dabei hatte er sie ab und zu nachts besucht, die Decke weggezogen und sie betrachtet, ihre noch kindlichen Brüste betastet und gestreichelt, während sie sich schlafend stellte. An mehr konnte sie sich nicht erinnern.
Sie kämpfte gegen ihren Vater, weil er die Familie terrorisierte und schon immer terrorisiert hatte. Weil die Mutter, kurz nach dem Umzug in die neue Wohnung, Rös und dich in die Küche eingeschlossen und danach den Gashahn aufdreht hatte. Rös kämpfte nicht erst in Amerika um ihre innere Freiheit, um die Loslösung von der väterlichen Klammer, auf Leben und Tod. Ihr Vater aber hielt euch alle in der Zange und stach immer dort zu, wo ihr am leichtesten zu verletzen wart. Er stach zu wie die Skorpione in seinem Terrarium. Er war für euch und ganz besonders für die Rös ein Skorpion. Und immer, wenn er zustach, entfachte er in Rös das Entsetzen einer gequälten Kreatur, da wurde sie zur Furie, auch in ihrem späteren Leben. Er wütete weiter in ihrer Seele, auch als sie ihn meinetwegen verlassen hatte, und er stach zu, jetzt vielleicht erst recht, weil sie mit mir zusammenlebte.
Mehr und mehr war ich überzeugt, dass die Rös zwar ihren Vater verliess und mich heiratete, aber seine Gefangene blieb. Ihr verinnerlichter Mann war der Mann der gefährlich stechenden Skorpione, der Herr über Leben und Tod. Ihr Vater war zum Wesen Mann und als solcher selbst zum grausamen Skorpion geworden. Wann immer sie sich in seiner Schuld fühlt, oder sich gegen ihn durchsetzen will, sticht er zu. Er behält seine Beute in der Zange und sticht und sticht, noch und für immer. Die Stiche aber lastet sie mir, ihrem zum Vater gewordenen Mann, an.
Jeder neue Mann, den sie sich nahm oder nimmt, erscheint ihr als Flucht und Rettung vor ihrem Vater. Jeder Mann wurde nach der ersten, oft überschwänglichen und überbordenden Verliebtheit zu ihrem Vater. Und als sie mir vor zwei Jahren erzählte, sie fühle die gleiche unerträgliche Spannung, wenn du, ihr Bruder, uns besuchen kommst, die sie früher fühlte, wenn euer Vater nach Hause kam – da wusste ich, dass sie auch in dir ein Bild ihres Vaters verinnerlicht hat und damit Angst und Aggressionen verbindet. Jetzt weisst du auch, warum wir dich in den letzten beiden Jahren kaum noch eingeladen haben. Sie kämpft noch immer gegen ihren Vater. Er hält sie nach wie vor in der Zange und sticht zu, wo sie am leichtesten zu verletzen ist, unvermittelt hervorbrechend, rasend, seitlich rennend, unberechenbar.
Die Stiche müssen entsetzlich schmerzhaft sein, und das Gift versetzt ihre Seele in Aufruhr. Der Schmerz führt entweder zum offenen Kampf gegen den Mann, wer immer das ist, zum Krieg gegen sich selbst oder zur Suche nach Linderung im Rausch oder Schlaf. Der längste Schlaf aber ist der Tod. Dieser mögliche Tod war für mich mehr als Entsetzen. Nie sollte sie in meinen Armen an den Stichen des unsichtbaren Mörders sterben. Niemand hätte den Mörder gesucht, niemand hätte ihn gefunden und niemand hätte mir geglaubt. Niemand aber vermochte es, meine Frau der Zange des Skorpions zu entreissen, den Skorpion zu töten. Rös hat sich bisher jeder Therapie entzogen, wenn diese ihr fundamentale Einsichten abverlangte.
Später entwickelte Rös eine unglaubliche Eifersucht. Vor allem, als ich mit meiner Arbeit etwas besser vorankam, kleine Erfolge hatte, Werbeaufträge fotografieren konnte und dabei Frauen oder hin und wieder gar Models auftraten. Hinter allem witterte sie wüste Szenen. Sie sah mich als geilen Grabscher, der sich die Mädchen vornahm, um zu onanieren. Einen richtigen Fick traute sie mir nicht zu, höhnte sie hin und wieder.
All diese Vermutungen waren barer Unsinn. Ich habe sie nie betrogen, ging nie in den Puff und glaubte trotz aller Schmach durch alle Jahre, im Grunde genommen ein gutes und liebenswertes Mädchen geheiratet zu haben, das mich mit ihrem Vater verwechselte und mich daher bekämpfte. Zwanghaft mit seinem eigenen Vater verheiratet zu sein, muss zu krankhaft grausamen Konflikten führen. Der vermeintliche Inzest verstösst vermutlich im Unterbewusstsein gegen jedes natürliche Schamgefühl und schreit nach Revolte.
Ich habe ja auch einen schwierigen Vater gehabt, der mich schikaniert und wegen Kleinigkeiten verhöhnt oder gar geschlagen hat. Wenn er wütend war, hat er auch meine Mutter geschlagen – gesehen habe ich es nie, es geschah immer nachts, ich habe ihn gehört, wenn er sie beschimpfte, sie gab auch zurück und ich wusste es immer, wenn die Schläge die Worte ersetzten. Und am Morgen sah ich es ihr an. Sie hat darüber nie gesprochen. Erstaunlicherweise schlug er weder Yvonne noch meine jüngeren Brüder. Ich wusste, dass ich das nie tun würde, und ich habe es nie getan. Manchmal glaube ich, die Rös wartete darauf – das hätte das Spiel erweitert, es noch tödlicher gemacht. Wir haben auch darüber gesprochen, sie sagt, dein Vater habe weder sie noch ihre Mutter geschlagen. Seine Gewalt war eine andere.
Es gab Zeiten, in denen sich Rös vor sich selbst fürchtete. Ein Arzt im Spital, in dem sie arbeitete, schickte sie zum Psychiater. Nach einer Weile schlug der Therapeut vor, mich an den Gesprächen zu beteiligen. Mit heute eher naiv erscheinendem Wohlwollen stellte ich mich selbstverständlich zur Verfügung und war dann sehr betreten, als ich mich mit dem angeblich eigentlichen Problem unserer Beziehung, meinem sexuellen Unvermögen, konfrontiert sah. Dies sei ein Problemkern von grösster Sprengkraft, der dringend gelöst werden müsse. Ich kannte den Sachverhalt, aber ich war vielleicht aus Ignoranz oder Überheblichkeit nicht auf die Virulenz und Tiefe des Anliegens vorbereitet und stellte die Diagnose in Frage. Als ich meine Sicht der Geschichte erzählte, stiess ich bei dem Therapeuten wie bei Rös auf kalte Ablehnung.
Rös beklagte sich, dass sie mit mir noch nie einen wirklichen Orgasmus erleben konnte. Sie gab zwar zu, dass unsere Sexspiele ihr oft gefallen hätten, aber sie war ihrer überdrüssig geworden. Während einiger Zeit versuchten wir im Gespräch eine Lösung zu finden. Ohne Ergebnis. Rös drängte mich, die Therapie abzubrechen. Ab jetzt wollte Rös mit mir nicht mehr schlafen – auf Zeit, wie sie meinte, vielleicht würde sich nach einer Auszeit alles zum Guten wenden.
Nach Monaten sah ich mich in einer unüberwindlichen Falle. Der Weg zu einer eventuellen Heilung war versperrt, und Rös’ Eifersucht verbot mir ohnehin jeden Versuch, auszubrechen. Und zudem hatten wir kein Geld. Wir lebten noch immer, mindestens zum Teil, von Rös’ Einkommen.
Es gab Zeiten, da sah Rös unser Dilemma ganz realistisch. Letztlich entschlossen wir uns, in die Schweiz zurückzukehren und ganz neu zu beginnen.
Und da waren wir nun. Alles wurde schwieriger als je zuvor. Nichts war, wie wir es uns vorgestellt hatten. Wir haben drüben alles, was sich verkaufen liess, verkauft, weil uns der Transport von Möbeln und Hausrat