Schweizer Tobak. Albert T. Fischer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Albert T. Fischer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783907301005
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jeden Freitag, um eine Woche später die ausgerippten Blätter abzuliefern. Emma war ein geschicktes Mädchen. Sie tat mit Fleiss, was die Grossmutter ihr zumutete, denn nur so blieb diese einigermassen bei guter Laune. Zwar war der Lehrer mit der Schülerin nicht zufrieden. Er besuchte Stine und erzählte ihr, das Mädchen schlafe oft während des Unterrichts, aber er möge sie nicht bestrafen, weil er glaube, die Arme müsse zu Hause zu viele Stunden arbeiten.

      Das brachte Stine aus der Fassung. Was er sich da ausdenke, sei eine Frechheit. Die Emma müsse kaum je länger als bis zehn Uhr abends arbeiten und auch am Morgen vor Kirchgang und Schule verlange sie nur ganz selten einen Einsatz, höchstens an Freitagen, wenn die Lieferung für die Fabrik nicht erfüllt sei. Dann müsse sie halt um vier oder halb fünf aufstehen und den Rest bewältigen, aber sie selbst helfe ihr dabei immer.

      Der Lehrer gab sich damit nicht zufrieden. Er erzählte Stine, Kinderarbeit werde in Zukunft bedeutend stärker geahndet. Es gehe nicht an, dass die Familien nach wie vor ihre Kinder ausbeuteten. Er werde wiederkommen und mit ihm ein Fräulein aus Sankt Gallen, das gegenwärtig eine wissenschaftliche Untersuchung zu diesem Thema mache. Ihr könne sie dann alles sagen, was sie mit der Emma mache und wie sie darüber denke. Die schreibe alles auf und daraus werde zuletzt ein Buch über die Kinderarbeit im Schmauchtal. Das machte Stine stutzig. Er solle sich hüten, dieses Fräulein vorbeizubringen, einen Dreck werde sie der erzählen, in ihrem Haus mache sie, was sie für richtig finde und das gehe bei Gott niemanden etwas an. Kinder müssten sich von klein auf an Arbeit gewöhnen, sonst werde nie etwas aus ihnen und jetzt solle er gehen, sonst rufe sie den Göpf und der werde ihm dann seine Schulmeisterflausen austreiben.

      Kinderarbeit war zwar in jenen Jahren längst verboten. Es war jedoch die Grossmutter, die jede Woche einmal mit ihrem Wägelchen die entrippten Blätter brachte, die neuen Bündel holte und den Lohn kassierte. Dass die kleine Emma ihrer Grossmutter ab und zu behilflich war, kümmerte niemanden. Weil Emma sehr geschickt war, bekam sie mit vierzehn Arbeit in der Fabrik. Das stille, fleissige, bescheidene Mädchen war beliebt bei ihren Kolleginnen, aber auch beim Aufseher und schliesslich auch bei Mama Brand.

      Die älteren Frauen hatten Emmas Mutter ebenfalls gekannt. Böse Zungen im Dorf wollten wissen, eine andere Frau als jenes schüchterne Mädchen armer Leute hätte der Wüterich Göpf nie bekommen, ihre Eltern hätten das zarte Ding an Stine und ihren Göpf verramscht, er habe seine Frau verprügelt und einige behaupteten, sie sei überhaupt nicht an den Folgen von Emmas Geburt gestorben, sondern am Elend der endlosen Quälereien ihres Mannes.

      Sechs Tage die Woche sass das Mädchen im Fabriksaal auf ihrem Stuhl und verarbeitete ihre Chargen. Nach vier Jahren hatte sie es zur Wickelmacherin gebracht, doch Stine holte nach wie vor jeden Freitag Tabakblätter, und wenn Emma am Abend nach jeweils zehn Stunden Fabrikarbeit nach Hause kam, setzte sie sich in der Stube an den Tisch zum Ausrippen bis zehn oder elf Uhr nachts. In den Wintermonaten, wenn es draussen weniger Arbeit gab, setzten sich Stine, die Magd, der Knecht und der Göpf dazu und alle arbeiteten im Licht einer trüben Petrollampe mit. Die mittlerweile junge Frau war blasser und trauriger geworden. In den letzten Wochen vor ihrem 17. Geburtstag wurde ihr während der Arbeit in der Fabrik ab und zu übel und sie musste sich erbrechen. Hin und wieder weinte sie still vor sich hin. Auf Fragen zu ihrer Verfassung zuckte sie die Achseln, lächelte beschwichtigend und meinte, es sei nichts, sie fühle sich einfach etwas müde. Damit stiess sie auf Verständnis und auch Anteilnahme.

      Es gab viel zu reden im Dorf, als Emma, für jedermann unerwartet, von ihrem unehelichen Kind entbunden wurde. Nach wenigen Wochen ging sie wieder in die Fabrik und Stine hütete den kleinen Lukas. Das Rätselraten über die mögliche Vaterschaft dauerte über Monate. Die völlig verdatterte junge Mutter weinte zwar oft, schwieg aber eisern zu dieser Frage.

      Erst im August 1914, als der Erste Weltkrieg ausbrach und der Knecht Melchior Stramm zum Militärdienst eingezogen wurde, meldeten er und Emma sich zur Hochzeit an. Im Dorf sickerte durch, Melch sei der Vater von Lukas und nur im Hinblick auf den möglichen Krieg hätten sich Göpf und seine Mutter dazu überwinden können, die Schande ihrer Tochter, sich mit dem Knecht eingelassen zu haben, offenzulegen. Schon im September fand die Hochzeit statt. Der Mann konnte sich, niemand wusste, warum, vom weiteren Militärdienst befreien und blieb auf dem Hof.

      Melchior Stramm fühlte sich jetzt nicht mehr als Melker und Knecht. Er getraute sich beinahe von einem Tag auf den anderen, dem Göpf entgegenzutreten. Schon kurz nach der Hochzeit nannte er ihn laut und schadenfreudig Klumpsack, drohte ihm seinerseits mit Prügeln und erschreckte die alte Stine jeden Tag mindestens einmal mit einem Riesengebrüll über irgendetwas, das ihm nicht passte. Auf diese Weise erhielt Emma in der Küche endlich fliessendes Wasser, das sie bis dahin kübelweise vom Brunnen in die Küche schleppen musste und nur wenige Wochen danach sagte die Alte ja zur Installation von elektrischem Licht im ganzen Haus.

      Emma befahl er ungeduldig, ihre Arbeit in der Fabrik aufzugeben und den Haushalt zu übernehmen. Von jetzt an solle Stine entweder in die Fabrik gehen oder zu Hause allein ausrippen. So, wie Emma bisher Vater und Grossmutter beinahe unterwürfig und vor allem aus lauter Angst gehorchte, so folgte sie den Ansprüchen ihres Mannes. Der Magd aber sagte Melch, wenn sie sich der neuen Ordnung füge, könne sie bleiben, sonst müsse sie gehen. Die Martha – eine schon etwas ältere Jumpfer, wie man damals ledige Frauen nannte – hatte keine grosse Wahl, fügte sich und blieb.

      Die Veränderungen auf Göpfs Hof wurden im Dorf sehr schnell wahrgenommen und jedermann wunderte sich.

      Der Winter kam und ging vorüber.

      Nicht alles entwickelte sich zum Guten. Im Frühling wurde der kleine Lukas zwei Jahre alt, stand noch immer nur wackelig auf den Beinen und begann kaum damit, einzelne Wörter zu reden. Er schlief oder schrie, wollte oft nicht essen und bewegte sich wenig. Melch interessierte sich für den Kleinen wenig, aber er nahm ihn ab und zu auf die Arme und sagte zu ihm: «Dir verdanke ich mein ganzes Glück, bleib gesund, Kleiner.» Dann tätschelte er ihm die Wangen, gab ihn seiner Mutter oder legte ihn ins Bettchen zurück.

      Wenn er schrie, gab ihm Stine von ihrem sogenannten Kräutersud. Allmählich wurde Emma etwas neugierig, womit die Grossmutter ihren Urenkel beruhigte. Sie nahm von Kräutern und dem Sud eine Probe und lief damit zum Apotheker. Der war entsetzt. Die Inhalte waren mehr als fragwürdig. Da sei Mohn dabei, der hier wachse, giftiges Zeug. Bestimmt wurde der Bub dadurch in seiner Entwicklung bereits behindert.

      Es kam zu einem ersten nachhaltigen Streit zwischen Stine und ihrer Enkelin. Melch sass mit in der Küche und sicherte so den Ausgang der Auseinandersetzung. Als alles raus war, nannte er Stine eine alte Hexe, eine Giftmischerin, früher hätte man solche verbrannt. Die Stine war entsetzt und bekreuzigte sich.

      Da nun Stine nach wie vor Woche für Woche mit dem Handwagen Tabakblätter holte, sie in der Stube allein ausrippte und Freitag für Freitag ablieferte, begann Emma aufzublühen. Im Sommer erwartete sie ihr zweites Kind, den Moritz. Und in den drei Jahren danach kamen noch zwei, Michael und der jüngste, Alois.

      Während diese drei ehelichen Söhne prächtig gediehen, blieb Lukas ein Kümmerling. Was ihn auszeichnete, war seine stets gute Laune und sein unstillbarer Appetit. Als ob er nachholen wollte, was er als Säugling versäumt hatte, ass er, was ihm in die Hände fiel. Emma musste schon bald alles wegschliessen, was in der Küche herumstand. Er machte sich selbst hinter die für die Schweine gedämpften Kartoffeln oder hinter den Krug mit dem Sauerrahm her.

      Mit sieben ging Lukas zur Schule. Er war ein fetter kleiner Junge mit auffallend kleinem Kopf, kleinen Händen, kurzen Beinen und kleinen Füssen. Nach einer Woche schickte ihn der Dorflehrer nach Hause, er solle in einem Jahr wieder kommen.

      So blieb ihm ein weiteres Jahr, um die Hühner zu jagen, auf den Wiesen erfolglos Schmetterlingen nachzurennen und seiner Mutter kleine Sträusse zu pflücken.

      Emma hatte sich mit dem etwas dümmlichen Lukas, wie Melch ihn nannte, abgefunden. Sie liebe ihn, wie er halt sei, erklärte sie, wenn jemand es wissen wollte. Manchmal weinte sie bei so dummen Fragen.

      Es gab nur einen Ärger, den sie dem Jungen nie verzieh. Er blieb Bettnässer. Beinahe jede Nacht liess er sein Wasser fahren. Sie tauschte sich darüber mit allen möglichen Leuten aus und versuchte alle Ratschläge