Psychiatrie in Bewegung. Mario Gmür. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Mario Gmür
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783907301074
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Weshalb hospitalisieren? Ist aber einmal ein Patient ganz von Sinnen, schlägt im Aggressionssturm wild um sich, poltert an Türen und Wände, so ist es gewiß am besten, die Hospitalisierung ohne Federlesens entschieden zu vollziehen und diese nachträglich mit ihm zu besprechen. An Hospitalisierungen erfährt der Patient oft am deutlichsten sein Scheitern in der Realitätsbewältigung, weil er die Krankheitseinsicht oft nicht durch die Krankheit selbst, sondern nur durch deren Konsequenzen gewinnen kann.

       Die Rente

      Bei einjähriger krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit erwächst dem Patienten der Anspruch auf eine Rente. Diese ist ein zweischneidiges Schwert. Einerseits gestattet sie dem Arbeitsunfähigen zu überleben, andererseits verschafft sie diesem einen sekundären Krankheitsgewinn und beraubt ihn mindestens teilweise der Motivation, sich zu neuer Erwerbsfähigkeit und Erwerbstätigkeit aufzuraffen. Die Einstellung des berenteten Patienten zu seiner Rente ist oft zwiespältig. Eine gewisse Scham ob der eigenen Schwäche mischt sich mit anklammerndem Interesse aus der Angst, das existenzsichernde Fundament zu verlieren. Beargwöhnen wir die Rentenfreudigkeit des Patienten und stellen seinen Anspruch in Frage, so sehen wir oft unsere Rehabilitationsfortschritte mit einem Mal vertan. Der Patient verliert seine Stelle und sichert sich so von neuem Invalidität und Rentenanspruch. Klüger ist es da, in der Rente einen Förderungsbeitrag zu sehen, die ihm Mut gibt, neue Arbeitsversuche zu wagen. Die Angst, er könnte nach einem gescheiterten Arbeitsversuch für die Dauer eines neuen Jahres den Rentenanspruch einbüßen, ist oft die Wurzel einer hartnäckigen Stagnation in der Resozialisierung; eine Rentenzusicherung für den Fall gescheiterter Arbeitsversuche führt in vielen Fällen zu deren Überwindung. Dies ist ein Beispiel für unsere Haltung gegenüber dem schizophrenen Patienten: Ihm gestatten, schizophren und krank zu sein, damit er möglicherweise gesund werden kann.

      Literatur

      1.Conrad, K.: Die beginnende Schizophrenie. 1. Aufl., Thieme, Stuttgart 1958

      2.Scharfetter, Chr.: Die Psychopathologie Schizophrener – ein Weg zur Ther Umsch 33 (1976): Heft 7

      2.Der Schizophrene und wir in der Praxis

      Aus: April 1980, Schweizerische Rundschau für Medizin (Praxis) 72, 1983

      Das langjährige Bestehen sozialpsychiatrischer Einrichtungen gibt Gelegenheit, über den Umgang mit Schizophrenen zu berichten und einige Überlegungen anzustellen, die sich vornehmlich aus Erfahrungen in der sozialpsychiatrischen Ambulanz herleiten. Gewiss, die Mehrzahl der Schizophrenen wird heute und auch in Zukunft vom Hausarzt und vom niedergelassenen, frei praktizierenden Psychiater behandelt werden. Die besondere Häufung klinikentlassener schizophrener Patienten in einer sozialpsychiatrischen Poliklinik gestattet indessen, Eindrücke von deren Behandlung mit einer besonderen Dichte zu gewinnen, welche die Erweiterung der gängigen klinischen Schizophreniebetrachtungen um einige wesentliche neue Erkenntnisse erlaubt.

      Es ist vor allem die Situation des Hausarztes, der seine Patienten oft über Jahre begleitet und ihnen in der Regel jeweils für die Dauer einer Sprechstunde begegnet, welche für die Beobachtung und für das Verständnis des schizophrenen Erscheinungsbildes eine neue Optik bietet (1).

      Zur Wandlung des Schizophrenieverständnisses

      Durch die grundlegenden Arbeiten von Griesinger (2) und Eugen Bleuler (3) hat sich unsere Einstellung zur Schizophrenie von einer fatalistisch-statischen zu einer optimistisch-dynamischen Haltung gewandelt. Griesinger markierte die Wende von der romantischen Psychiatrie, welche die Krankheit als moralische Verfehlung verstand, zu einer organisch ausgerichteten Psychiatrie, welche die Wurzeln psychischer Veränderungen in der Gehirnsubstanz lokalisierte. Mit Eugen Bleuler wich die Vorstellung eines unbeeinflussbar ablaufenden organischen Prozesses der Erkenntnis einer Dynamik sich widerstreitender Kräfte, die ihren Ursprung in der gegenwärtigen und vergangenen Innen und Aussenwelt, in der Anlage, Umwelt und Biographie haben. Die naturwissenschaftlich erklärende Psychologie wurde so durch die verstehende Psychologie erweitert. Dieser neue wertphilosophische Stellungsbezug erhob den Patienten vom Objekt distanzierter Betrachtung und distanzierender Ausschliessung zum Partner diagnostischer und therapeutischer Auseinandersetzung. Als neue therapeutische Methode gewann das ärztliche Gespräch zentrale Bedeutung. Hauptmerkmal dieser Neuorientierung waren in den 50er Jahren unseres Jahrhunderts die Intensität und die Beflissenheit, mit welcher Psychotherapien an Schizophrenen von Psychoanalytikern im Burghölzli ausgeübt wurden. Diese war genährt vom Bestreben und Eifer, die Heilbarkeit der Krankheit zu erweisen. Die therapeutische Auseinandersetzung, meistens an schizophrenen Patienten in der «verfügbaren» stationären Situation in der geschlossenen Klinik praktiziert, blieb damit Werkzeug in der psychotherapeutischen Werkstatt des Arztes, der Patient Therapieobjekt. Heilungsbeweise wurden in Einzelfällen erbracht, waren jedoch eher die Ausnahme. Was uns von dieser Ära psychoanalytischer Intensivtherapie erhalten geblieben ist, ist das Bekenntnis zum therapeutischen Engagement am Patienten, das heute unter den Titeln von Ergotherapie, Milieutherapie und Betreuung unter Einschluss der Psychopharmakologie weiterlebt. Neuere Ansätze und Anläufe zu psychodynamischem Verständnis und psychotherapeutischen Aktivitäten in den letzten Jahren waren oft von dem Bemühen gekennzeichnet, diesen vorausgehend diagnostisch-nosologische Umdefinierungsstrategien, quasi als Legitimation, zugrunde zu legen. «Schizophrene Reaktion», «Borderline», «narzisstische Neurose» – Diagnosen, die sich vorübergehend oder bleibend in Diagnoseschlüsseln und auf Austrittsberichten neuerer Auflage festsetzen – sind wohl geeignet, einen neuen therapeutischen Optimismus zu nähren. Dies durch ihre in der Wortwahl zum Ausdruck gebrachte Schonhaltung und ihre Abschwächungseffekte gegenüber der gesellschaftlich immer noch stigmatisierten Diagnose «Schizophrenie», durch die Andeutung von Interpretierbarkeit und milieubezogener Bedingtheit und durch ihre Verführung zu therapeutischer Beeinflussung: Schizophrene Reaktion – nur eine Reaktion, Borderline – lediglich ein Grenzfall, narzisstische Neurose – behandelbar, zum Glück keine Schizophrenie, wird uns mitunter suggeriert, zumindest da, wo diese neueren diagnostischen Etikettierungen auf die herkömmliche Schizophrenie angewandt werden. Die theoretischen Ansätze psychodynamischer und entwicklungspsychologischer Richtung (Kohut, Kernberg u. a.) haben unseren Verständnis- und Handlungsspielraum im Umgang mit kranken Menschen in einer Weise erweitert, dass sie der Verwertung für nosologische Neuorientierungsstrategien entsagen können und uns mehr bringen, wenn sie als allgemeine Psychologie des Menschen für die ärztlich-psychotherapeutische Arbeit Verständnis- und Handlungshinweise geben. Dies gilt auch für die Behandlung der Schizophrenie (4, 5).

      Verharmlosende Umdefinierungen der Schizophrenie könnten sich nur allzuleicht zur raffiniertesten Variante der Intoleranz gegenüber dieser Lebenserscheinung auswachsen, weil sich Ablehnung, ja Diskriminierung hier ins Gewand von wissenschaftlich fundiertem Altruismus hüllt. Sie entpuppten sich als verschlüsselte Form der Ausschliessung und Absonderung, der Exkommunikation von Schizophrenie und des Schizophrenen, die sich handfester Anfechtbarkeit mehr entzieht als etwa offene institutionelle Isolierung. Gerade gegenüber Schizophrenen offenbart die Heilsbemühung des Arztes mitunter ihr Janus-Gesicht: Heilen heisst, im Patienten das Gesunde fördern, aber auch die Krankheit ablehnen. Insoweit der Patient mit seinem Denken und Fühlen, seiner Krankheit eins ist, gerät er also nur allzuleicht in die Lage, dass er sich einem Helfer gegenübersieht, der ihn ablehnt. Solcher Widersprüchlichkeit können wir uns entziehen, wenn wir anerkennen, dass jede Krankheit ihr Gutes und ihr Schlechtes haben kann.

      Welche Behandlungstechniken auch immer erfunden, entwickelt und appliziert werden – Psychopharmaka, Familientherapie, Psychoanalyse, Milieutherapie –, sie erliegen oft der Gefahr, unsere Beziehung zum Patienten zu instrumentalisieren, diesen zum Objekt therapeutischen Handelns zu degradieren und die Schizophrenie zu einer besiegbaren Krankheit zu verdinglichen. Es sei den Forschungsbemühungen nicht die Berechtigung abgesprochen, Kampfinstrumente