Psychiatrie in Bewegung. Mario Gmür. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Mario Gmür
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783907301074
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(in seiner doppelten Großartigkeit, die dem Mord – und erst noch an einem Diplomaten – anhaftet) erledigt sich jedes Mal und hundertfach durch seine wiederholte Ankündigung, die dazu nicht mehr als einen Zuhörer mit aufmerksamer Zurückhaltung braucht. Schizophrene, die ihren Wahn mitteilen, bedürfen oft nur einer Spiegelung ihrer Phantasien und sind überfordert, wenn ihre metaphorisch gemeinten Äußerungen faktisch verstanden und für bare Münze genommen werden. Wir können es einem Patienten nicht verargen, wenn etwa bei jeder Konsultation seine Schrulle vom letzten Mal gegenstandslos geworden ist und einer neuen Idee Platz macht. Er will uns heute einen neuen, abstrus ausgetüftelten Intelligenztest vorführen und macht sich nichts mehr aus seinem überzeugend vorgebrachten Wunsch vom letzten Mal, einen Antiquitätenhandel aufzuziehen. Helas! So gehen wir auf sein aktuelles Thema ein. Ähnlich wie in der psychosomatischen Medizin die Kunst darin besteht, beides, das Somatische und das Psychische, im Auge zu behalten, müssen wir uns beim Schizophrenen auf die Realität und die Phantasie einstellen, ohne das eine gegen das andere auszuspielen.

       Das verklungene Paranoid

      Remittierte Schizophrene, die uns etwa von der Klinik zur Nachbehandlung überwiesen werden, stellen sich zur verklungenen Krise verschieden ein. Die einen mögen sich kaum erinnern, was in ihnen und mit ihnen vorgefallen ist, oder betrachten die Sache ganz einfach als überwunden. Es erwiese sich als völlig verfehlt, das Vergangene zu erforschen und aufzuwühlen. Der Kranke entgegnete uns, er möge sich an nichts erinnern, oder, er wolle darüber nicht sprechen, das wäre für ihn ein Anstechen alter Wunden. Bei anderen – es sind nicht wenige – richtet sich das Aussprachebedürfnis auf die psychotische Episode, und einige unter ihnen wünschen gar eine eigentliche psychotherapeutisch-systematische Bearbeitung und Bewältigung des Erlebten. So war ein Student der Überzeugung, er sei am Arbeitsplatz vom Vorgesetzten hypnotisiert worden und seither ein veränderter Mensch. In der Klinik habe dann der Oberarzt ihn nächtlicherweise hypnotisiert. Jetzt verlangt er von uns eine Erklärung für all das. Oder, eine Lehrtochter will von uns wissen, ob sie nochmals einen Rückfall erleiden könne und was sie dagegen tun könne.

      Häufig verlangen Schizophrene auch Auskunft über ihre Restsymptome: Sie erleben die Welt nicht mehr gleich wie vorher, viel blasser. Sie spüren in der Straßenbahn den Zwang, anderen Fahrgästen eine Ohrfeige zu geben. Oder, die Häuser an der Bahnhofstraße stürzen auf sie ein. Weshalb? Solchen Beunruhigung anzeigenden Fragen sind nach meinen Erfahrungen oftmals Entgegnungen angemessen, die man als Analogiedeutungen bezeichnen könnte. Ich meine damit eine Art von normalpsychologischen Korrelaten oder Pseudoerklärungen. Es geht dabei darum, dem Patienten eine mögliche, denkbare, nicht unbedingt die richtige Erklärung aus dem Verständnishorizont des Gesunden zu geben und damit das beunruhigende Ereignis oder Symptom in eine Verstehensgemeinschaft zwischen Arzt und Patient einzufassen. Etwa so: «Es ist bekannt, daß Leute, die vom Lande in die Stadt kommen, sich oft ausgesprochen klein vorkommen und das Gefühl haben, die Häuser stürzen auf sie ein». Oder: «Wenn man krank war, so ist sehr häufig die Angst da, die Krankheit könnte sich wiederholen». Einem Patienten konnte ich die Beunruhigung über sein Derealisationserleben (Verblassung der Umweltwahrnehmung) nehmen, indem ich diese depressiv gefärbte Erlebnisqualität mit den Worten beschrieb: «Sie haben seit Ihrer Erkrankung das Gefühl, das Leben habe sozusagen kein Aroma mehr». Eine kausale Verknüpfung solcher Wahrnehmungsstörungen mit dem Ausbruch der Psychose (Rezidiv) fördert oft die Toleranz und Geduld des Patienten gegenüber den beklagten Symptomen. Bei vorhandener Krankheitseinsicht haben auch fachmedizinische Benennungen einen spannungsvermindernden Effekt, etwa: «Man nennt dies Phobien oder Zwänge» etc.

       Bin ich schizophren?

      Oft rätseln wir, ob der Patient eigentlich weiß, daß er schizophren ist. Ähnlich wie bei einem Karzinomkranken weiß er es oder weiß er es nicht. Weiß er es, will aber nicht darüber sprechen, das Wort nicht hören; weiß er es und möchte darüber sprechen, aber nicht den Anfang machen; möchte darüber sprechen, aber nichts davon wissen; weiß er es und weiß er es nicht etc. etc. Ihm die Diagnose aus heiterem Himmel ohne sein Verlangen zu eröffnen, wie etwa die Mitteilung einer somatischen Bagatelle, würde ihn wohl aus der Fassung bringen wie ein lebenslängliches Urteil, weil er eine so umfassende Fremddarstellung seiner Identität nicht ohne starke Erschütterung mit seinem Selbstbild in Deckung zu bringen vermag. Wir sagen ihm daher auch nur das, was nötig und nützlich ist, und gehen von dem aus, was er sich als Wissen und Selbstverständnis bereits zurechtgelegt hat. Das Wissen um die Diagnose und die damit verknüpften Erwartungen ist für ihn wichtig, um die Krankheit in seine Lebensgestaltung gebührend einzuordnen.

      «Bin ich schizophren?» Gelegentlich kommt diese Frage aus dem Munde eines Patienten direkt auf uns zu. Unsere Verlegenheit unter diesem Überraschungseffekt ist vielleicht größer als die Hemmung des Patienten, auf uns zu hören. Werde ich von dieser Frage auf der Türschwelle überrascht, so sage ich dem Patienten: «Ja, diese Frage kommt so plötzlich, da müssen wir etwas ausführlicher darüber sprechen», und reserviere ihm dafür einige Zeit. Es kommt auch vor, daß ein Patient nur beiläufig seine Schizophrenie erwähnt, «daß er wegen seiner Schizophrenie ja zu 50 % arbeitsunfähig sei». Er erspart uns vielleicht einen dornenvollen Weg diagnostischer Aufklärung. Zuviel des Guten wäre es, die diagnostische Aufklärung des Patienten zum Prinzip zu erheben und zur Voraussetzung jeder therapeutischen Arbeit zu machen. Diejenigen Patienten sind wohl in der Mehrheit, die durch ihr Erscheinen bei uns und die umstandslose Einnahme der Neuroleptika genügend dartun, daß sie einer Behandlung bedürfen und dazu bereit sind.

       Medikamente

      Viele Patienten, die an einer Schizophrenie leiden, lehnen Medikamente rundweg ab, auch wenn sie von Stimmen gequält werden bis zur Verzweiflung und sich in Klagen darüber ergehen. Aussichtslos, ihnen die Medikamente mundgerecht zu machen, obwohl sie in ihrer Raserei und rastlosen Getriebenheit auch schon ihre Wohnung beschädigt haben und eine Hospitalisierung nicht mehr abwendbar scheint. Der Widerstand gegen die Medikamente ist gewöhnlich nicht zu brechen, und es ist meist auch nicht ergiebig, viel Mühe darauf zu verwenden, denn die Abwehr hat ihre Wurzeln in tiefen Verlustängsten: Da ist einmal die Angst des Schizophrenen, die inneren schizophrenen Objekte, die er gegen seine drohende Selbstauflösung aufgerichtet und mit denen er sich versöhnt und arrangiert hat, zu verlieren. Die Medikamente würden ihm seine blühende Schizophrenie wegnehmen, mit welcher er ein leeres, hohles Innenleben ausstattet. Wer garantiert ihm, daß es ihm ohne diese besser gehen wird? Eine weitere Quelle seines Widerstandes gegen Medikamente ist die Angst vor Kontrollverlust. Auch in seinem psychotisch aufgelösten Zustand behält er, beobachtend und agierend, die Kontrolle über die inneren und äußeren Vorgänge, die er sich nicht entwinden 1assen will. Erzwingen wir die Medikamenteinnahme, so steigert sich seine Angst zu einer höllischen Panik, die ihn wohl sein Leben lang gegen die Medizin stimmt, welche ihm kaum jemals als rettender Engel, sondern als unmittelbarer, wissenschaftlich verbrämter Vertreter der bösen nackten Gewalt entgegentreten wird. Da lassen wir besser die Medikamente beiseite und begnügen uns damit, der weiteren Entwicklung zu harren. Nicht selten wendet sich von selbst das Blatt, und der Patient telephoniert oder erscheint unvermittelt mit dem überraschenden Begehren nach Medikamenten.

      Die Angst vor dem Kontrollverlust präsentiert sich freilich in den verschiedensten Variationen: Der eine Patient rettet seine Kontrolle, indem er in ultimativem Befehlston dem Arzt gebietet, unverzüglich die Spritze zu verabreichen. Bei einem anderen fahren wir gut, wenn wir ihm ein Semap (perorales Wochenneuroleptikum) mitgeben für den Gebrauch nach eigenem Gutdünken. Und ein Dritter fühlt sich einer eigenen angstmachenden Verantwortung nur dann enthoben, wenn er sich dem eindeutigen Imperativ der ärztlichen Anordnung auf der Stelle unterziehen kann. Die Auflehnung gegen ärztliche Medikation findet indessen noch weitere, durchaus rational begründete Erklärungen, nämlich die Angst vor Nebenwirkungen, wie Adipositas, Müdigkeit, vegetative und extrapyramidale Begleiterscheinungen, die von früheren Behandlungen als lästig und hinderlich in Erinnerung sind.

      Zum Thema medikamentöse Dauerbehandlung (Beispiel: eine Dapotum-Spritze alle drei Wochen oder ein Semap pro Woche): Es ist eine Erfahrungstatsache, daß viele Patienten unter