Psychiatrie in Bewegung. Mario Gmür. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Mario Gmür
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783907301074
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Beweglichkeit, die manchen, der nicht übermäßig phantasiebegabt ist, neidisch machen könnte. Viele Menschen ergreifen die Flucht zu Drogen, um einen ebenbürtigen eidetischen Erlebnishunger zu stillen. Beim Schizophrenen ist indessen dieser veränderte Zustand oft begleitet von Gefühlen des Unbehagens, der Verunsicherung, der Angst. Dieses diffuse und nebulose Erleben verlangt nach Konkretisierung und Verdinglichung: Der Schizophrene mobilisiert in dieser bedrohlichen Verfassung alle möglichen Hilfsmittel, um die Bedrohung in den Griff zu bekommen, den unorganisierten Zustand zu organisieren. Er verlegt die Bedrohung von seinem Inneren nach außen. Es droht jetzt der Weltuntergang in Australien. Die Lokalisierung hilft, wenn auch unvollkommen, die apokalyptische Bedrohung zu bannen. Oder: Der Wirt vom «Goldenen Kreuz» hat Gift in die Suppe getan – Sündenböcke helfen in der Krankheit ebenso wie in der Politik, eine unerträgliche Situation besser auszuhalten.

      Körperbewegungen, Schreien, Verwerfen der Arme usw., im Sprachschatz der Psychopathologie als «katatone Symptome» festgehalten, helfen ferner, das entschwundene Gefühl der körperlichen vitalen Leibhaftigkeit zurückzugewinnen und dem in Auflösung Begriffenen die Gewißheit zurückzugeben, «ich bin noch da, ich bin mich selbst». SCHARFETTER [2] hat diesen ich-psychologischen Aspekt in letzter Zeit herausgearbeitet. Das Ich als psychische Instanz der organisierenden Vermittlung zwischen innerem und äußerem Geschehen, des Ordnens und Ausrichtens des Denkens, Fühlens und Handelns, ist die Stätte des schizophrenen Geschehens in der bipolaren Anordnung von Desintegration (Auflösung) und Reparation (Wiederherstellung). Wahnbildungen und katatone Symptome stellen reparative Selbstheilungsversuche dar, die dem in einer Krise von Umbruch und Auflösung verlorenen Kranken Halt und das Gefühl von Eigenbestimmung verleihen. Verletzung und Narbenbildung sind die äquivalenten Erscheinungen (von Auflösung und Reparation) in der körperlichen Medizin. Als Ärzte lassen wir die Narbenbildung als Selbstheilungsvorgang gewähren, wenigstens solange sie nicht derart entartet, daß sie selbst zur Krankheit wird.

      Der paranoide Patient in der Praxis

       Der drängende Paranoide

      Beklagt sich der Patient, sein Nachbar bestrahle ihn mit Röntgen strahlen und nehme jede Nacht in seiner Küche Abtreibungen vor, so sind wir in einem Dilemma: Widersprechen wir seinen Behauptungen, wie der gesunde Menschenverstand und unsere Überzeugung uns gebieten, so fühlt er sich unverstanden und entzieht sich unserer weiteren Behandlung, die er anderswo fortsetzt. Unterstützen wir ihn, indem wir den Widerspruch vermeiden und gutes Einvernehmen herstellen, so verlieren wir unsere Aufrichtigkeit und müssen spätestens dann den Rückzug antreten, wenn der Patient uns das Mandat für die Verteidigung seiner Wahnrechte anträgt oder uns als Zeugen beansprucht. Nicht selten fehlt uns aber tatsächlich auch selbst die letzte Gewißheit, daß die Behauptungen des Patienten abstrus und unwahr sind. Denkbar ist es ja, daß der Nachbar die Blumenbeete mit Gift bestreut, oder daß das Telephon knackt, wie er meint. Jedenfalls tun wir gut daran, uns nicht voreilig zu positiven oder negativen Stellungnahmen hinreißen zu lassen. Unsere Bemühungen sind vielmehr darauf auszurichten, den Patienten von seinem inneren Druck zu entlasten. Die Kundgebung unserer Gefühle eignet sich besonders dafür, etwa teilnahmsvolles Staunen, z. B. ein erstauntes, halb fragendes, halb ausgerufenes «Ja, was!?». Oder: «Ja, das ist aber schwierig nachzuweisen». Oder: «Das ist aber unangenehm …». Solche inhaltlich neutrale, aber engagierte Äußerungen respektieren mindestens das subjektive Recht des Patienten, der seine Halluzinationen und Wahnvorgänge authentisch und leibhaftig erlebt. Stets auf der richtigen Linie befinden wir uns auch, wenn wir uns den vorgebrachten Wahn ausführlich und detailliert schildern lassen und so das von uns erwartete Interesse bekunden.

      Die Divergenz von subjektiver und objektiver Betrachtung können wir dem Patienten zumeist nicht auf Anhieb plausibel machen. Sagen wir ihm, «das meinen Sie nur, Ihre Befürchtungen sind unbegründet», so wird er uns empört in die Reihe seiner Skeptiker, eventuell Verfolger verweisen, und wir haben ihn unwillkürlich aus unserer therapeutischen Beziehung verscheucht. Das Pünktchen auf das i unseres Unverständnisses ist für ihn, wenn wir ihm auf Anhieb Medikamente anbieten mit der Aussicht, «die Strahlen zu beseitigen», und ihn so indirekt zum Kranken stempeln. «Ich bin doch nicht etwa krank, Sie müssen das Gesundheitsamt benachrichtigen, damit diese dort die Röntgenstrahlen beseitigen», wird er uns entgegnen.

      Sollen wir uns als Wahngehilfe für solche und ähnliche Ansprüche zur Verfügung stellen? Als wissenschaftlich orientierte Somatiker beurteilen wir diese Frage nüchtern-sachlich und weigern uns, uns auf die Seite des Wahns zu stellen. Hinsichtlich unserer Beziehung zum Patienten mag aber ein Mitspielen durchaus das Richtige und Heilbringende sein. Vergegenwärtigen wir uns an diesem Beispiel die innere Verfassung des Patienten: Er ist von Unruhe und Angst gequält und hat sich mit seinem Erklärungswahn wenigstens etwas zurechtgelegt, an dem er sich vor dem Sturz in den Abgrund einer apokalyptischen Krise retten und das er gleichzeitig als etwas Reparierbares darbieten kann, mit einem Appell an unser Verständnis und unsere Hilfsbereitschaft. Jede unsere Antwort ist hier stimmig, welche Aufgeschlossenheit gegenüber dem Anliegen des Patienten mit Wahrhaftigkeit unserer Stellungnahme verbinden kann. Zum Beispiel: «Mir scheint die Sache sehr sonderbar; ich will, wenn Sie so drängen, einmal mit der Polizei Kontakt aufnehmen und Ihnen dann wieder berichten». Oder: «Das kann ich fast nicht glauben!»; «Wäre es allenfalls denkbar, daß Sie sich das einbilden?» etc. etc. Meint ein an Altersparanoid leidender Patient, das Schloß seiner Wohnung in der Alterssiedlung sei «manipuliert» worden, so hat sich auch schon die Stellungnahme bewährt: «Dann wechseln wir doch einmal das Schloß aus, es ist ja keine Riesensache», und man hat vielleicht eine Beruhigung für einige Monate erzielt. Das Entscheidende ist, daß wir eine Gemeinsamkeit des Verständnisses oder Mißverständnisses mit dem Patienten herstellen, um ihn herauszuholen aus der Isolation und inneren Leere, in welcher er sein Wahngebilde aufbauscht.

      Solche Reaktionsweisen eignen sich für den Auftakt’ einer ersten oder späteren Begegnung und immer dann, wenn unsere naturwissenschaftlichen Therapieangebote auf die irrationalen Widerstände des Patienten treffen. Unseren Standpunkt, der sich auf das ärztliche Wissen oder den gesunden Menschenverstand stützt, können wir dem Schizophrenen nur, wenn überhaupt, allmählich vermitteln, indem er sich durch eigene Erfahrungen und Konfrontationen mit der Realität zu einem Einlenken bewegen läßt.

      Eine altersparanoide Patientin hielt zunächst an der Überzeugung fest, daß sie seit dem 6. Dezember letzten Jahres jeweils nachts von einem Lichtstrahl, der seinen Ursprung auf der anliegenden Straße habe, belästigt werde. Erst als sich in einem Gespräch herausstellte, daß dieser Lichtstrahl auch nach dem Umzug der Patientin in eine andere Wohnung jeweils zur selben nächtlichen Stunde erschien und ich ihr dazu erklärte, daß ich als Arzt häufig von älteren Leuten solche Klagen vernehme, meinte sie, «dann kommt der Lichtstrahl eben von innen heraus und ich bin krank», und war zur Einnahme von Neuroleptika bereit.

       Der anspruchslose Paranoide (der Diplomatenmörder)

      Anders sieht es aus, wenn der schizophrene Patient, der so beunruhigende und befremdende Äußerungen macht, keine Forderung nach Veränderungen an seine Umwelt richtet und auch uns davon verschont. Es sind dies oft Patienten, die ihren abstrusen Worten keine Taten folgen lassen, bei denen die Wahnphantasie die entsprechenden Taten geradezu erübrigt. Ein Patient beispielsweise erschreckt den Arzt seit Jahren bei jeder Konsultation mit der