Psychiatrie in Bewegung. Mario Gmür. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Mario Gmür
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783907301074
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psychisch und sozial von der Krankheit gezeichnet, können sich aber wenigstens außerhalb der Klinik halten. Das Bewußtsein, «dank der Medikamente» von einem Rückfall verschont zu bleiben, ist die zuverlässigste Motivation für eine kontinuierliche Behandlung. Oft gibt es aber auch andere Gründe, dem Arzt über Jahre die Treue zu halten: Sympathie, Gehorsam, Gewöhnung. Zieht sich die Behandlung in die Länge, über Monate und Jahre, so stellt sich indessen beim Patienten, wie auch immer seine Motivation gelagert ist, und oft auch beim Arzt eine Langeweile ein, die zur Sinn-und Zweckfrage veranlaßt: Wenn es dem Patienten so konstant gut geht, ist die Fortsetzung der Medikation noch angebracht? «Muß ich (er) das Leben lang Medikamente einnehmen?»

      Ursprünglich eingeleitet zur Behebung einer Krise, nimmt die Neuroleptikabehandlung auf die Dauer zunehmend einen prophylaktischen Charakter an, dies im Unterschied etwa zu einer analgetischen Behandlung, wo der Kranke sich, durch das Wiederaufflackern des Schmerzes bei Dosisreduktion, täglich der therapeutischen Wirksamkeit vergewissern kann. Geht die unmittelbare Erfahrungsevidenz des Ursache-Wirkungs-Zusammenhangs einer Medikation verloren, so verschwinden oft auch das Verständnis dafür und die Bereitschaft, die Disziplin zur regelmäßigen Medikamenteinnahme aufzubringen. Dem Reiz, sich wieder ohne den Artefakt chemischer Beeinflussung als Nativpersönlichkeit zu erfahren, ist schwierig zu widerstehen. Die Monotonisierung der Langzeitbehandlung weckt den Wunsch nach Änderungen und Dynamisierung. Vorerst stellt uns der Patient nur die Frage, weshalb er der Medikamente noch bedürfe und was diese in ihm noch bewirken. Ich knüpfe hier meist an seine früheren Erfahrungen an und entgegne, das Medikament bewahre ihn vor Rückfällen in die Krise, schirme ihn vor der Überflutung durch innere Ängste und Impulse ab. Eine solche Erklärung vermag die Motivation des Patienten oft zu verlängern. Sträubt er sich jedoch unvermindert gegen die Medikation, so erweist sich jede therapeutische Zwängerei unsererseits als unfruchtbar. An die Stelle der persuasiven Bemühungen hat unser Respekt für die subjektive Sicht des Patienten zu treten, für welche wir nun Verständnis bekunden, indem wir den Medikamenten-Absetzversuch zu einem gemeinsamen therapeutischen Programm gestalten, während welchem die Beziehung aufrechterhalten bleibt. Absetzversuche haben in der Regel kein unmittelbares Rezidiv zur Folge, welches sich meistens erst nach Monaten entwickelt. Eine unaufdringliche Empfehlung an den Patienten, bei Anzeichen von Verschlechterung die Behandlung wieder aufzunehmen, genügt in vielen Fällen, um Wiederhospitalisierungen zu vermeiden.

       Die Einstellung zur Klinik in der Ambulanz

      Vielerorts stehen psychiatrische Kliniken auch heute noch in einem anrüchigen Ruf. Sie werden despektierlich als Spinnwinden bezeichnet und als Aufbewahrungsstätte für Verrückte und Halbverrückte betrachtet. Ungeachtet der Modernisierung des intramuralen und extramuralen Psychiatriebetriebes lebt die Dämonisierung der Klinik fort und bewirkt eine Abschreckung auf behandlungsbedürftige Patienten, zu einem gewissen Grade indessen auch eine Attraktivität auf neue Psychiatergenerationen, die Einblick in die «Welt der Verrückten» nehmen. In den letzten Jahren entwickelten viele Psychiater der jüngeren, «sozialpsychiatrischen» Generation den Ehrgeiz, Hospitalisierungen um jeden Preis zu vermeiden. Generelle, zeitbedingte Vorurteile gegen die Klinik gilt es von der persönlichen Einstellung des Patienten abzugrenzen, die sich aus dessen eigener Krankheitserfahrung und persönlichem hautnahen Kontakt mit der psychiatrischen Klinik herausbildet. Oft ist es eindrucksvoll, wie nachhaltig und hartnäckig der Akt der Hospitalisierung und die ersten Stationserlebnisse von Patienten mit Empörung erinnert und angeprangert werden, und dies oft in krassem Gegensatz zu ihrer mitunter langjährigen passiven Ergebenheit gegenüber dieser Institution, aus welcher auszutreten sie keine Anstalten machen, oder umgekehrt trotz benignem Verlauf, der ihnen einen baldigen Austritt ermöglichte. Diese oft so festgefahrene und unverrückbare klinikfeindliche Haltung liegt teilweise in der Krankheit begründet: Der Zustand des hospitalisierungsbedürftigen Patienten ist ja meist ein akuter und bedarf deshalb allergrößter Vorsicht und Sorgfalt unsererseits, weil der Kranke sich gewissermaßen in einer verletzlichen Phase befindet, voller Angst und Mißtrauen gegenüber allem, was auf ihn zukommt. Wenn wir noch so sachgerecht mit ihm umzugehen meinen, verletzen wir ihn: unsere interessierte Miene und unser eifriges Notieren bei der Exploration und Einweisung geben dem Wahngestimmten die Gewißheit, daß wir Abgesandte der Kriminalpolizei sind, und wenn er dann von Sanitätsbeamten weggeführt wird, steigert sich diese zur Überzeugung, daß er das Opfer einer Deportation zu einer Hinrichtungsstätte wird, Stoff genug für eine Legendenbildung, die vielleicht lebenslang unverändert erhalten bleibt.

      Gewiß tun wir meist zu wenig, um mindestens die vermeidbaren Traumatisierungen in dieser vulnerablen Phase zu verhindern. Als Notfallärzte haben wir es uns hier zur ersten Pflicht zu machen, alle unsere Bemühungen in den Dienst der Angst- und Spannungsverminderung zu stellen, weil angesichts der Tiefe der chaotischen Regression und Fragmentierung des Selbsterlebens des Patienten die Anfälligkeit für die Errichtung bleibender Wahngebilde, die ihn neurotisch einengen werden, erheblich ist. Hier ist auch das psychohygienische Postulat angebracht, Aufnahmestationen für Akutkranke eine möglichst sanfte und warme Ausstattung zu geben. Unvermeidliche Traumatisierungen bei brachialen Auseinandersetzungen, Spritzenverabreichungen usw. sind mindestens nach abgeklungener Krise mit dem Patienten ausführlich zu besprechen. Gewiß, auch übersteigerte Gefühle anderer Färbung, etwa der Faszination, können sich in der Wahnstimmung neurotisch einengend verfestigen und sind daher durch entsprechende Umgebungsgestaltung zu lindern. Fast alle Objekte bieten sich als Projektionsträger an für Gefühle von Angst, Wut, Mißtrauen usw. Die milieuhygienischen Maßnahmen sind daher darauf auszurichten, die jeweils vorherrschenden Affekte (psychotischen Ausmaßes) zu mitigieren (Mitigierung der psychotischen Affekte). Bei der nachträglichen gesprächstherapeutischen Bearbeitung der Traumata bewährt es sich, die vom Patienten mitgeteilten Erlebnisse mit geduldiger Aufmerksamkeit anzuhören und außerdem das traumatisierende Umgebungsverhalten motivationsanalytisch realistisch und aufrichtig aufzudecken. Mitteilungen wie die, daß Ärzte und Pflegepersonen mitunter auch mürrische Menschen sind, weil sie strenge und zermürbende Arbeit verrichten, und daß deren beklagte Verhaltensweisen nicht persönlich-boshafter Natur waren, tragen oft dazu bei, daß der Patient seine subjektive Interpretation der Vorgänge zu relativieren vermag. Auch das Zugeben von Fehlern, Entgleisungen, ungeschickten Formulierungen oder andere «Fragwürdigkeiten» können, wenn sie mit Takt und Offenheit dargestellt werden, die Entschärfung eines gespannten Patienten-Psychiatrie-Verhältnisses begünstigen. Beispiel: «Ich gebe zu, ich hätte allenfalls auch eine Hospitalisierung vermeiden können, aber es war kurz vor Ostern, und mir war bei der Hetze im Notfalldienst nicht so wohl dabei, Sie ihrer Familie zu überlassen».

      Eine Frage, die allenthalben eine Grundsatzdiskussion auslöst, ist die, ob die Hospitalisierung als eine Kapitulation ambulanter Bemühungen einzustufen ist. Von der allgemeinen Auffassung, daß ein Leben außerhalb des Spitals, wenn immer möglich, der Hospitalisierung vorzuziehen ist und die Klinik nur als subsidiäre Einrichtung zu fungieren hat, gibt es wohl keinen überzeugenden Grund abzuweichen. Die Klinikvermeidung prinzipiell bis an die äußerste Grenze ambulanter Möglichkeiten zu strapazieren, liegt aber wohl kaum im Interesse jedes Patienten. Viel häufiger, als unserem eigenen Helferwillen lieb ist, drückt sich in einer psychotischen Krise ein ungestümer, protestvoller Widerspruch zur Normalität unserer Welt aus, der mit kompromißloser Radikalität und Ausschließlichkeit nach sinnhafter und fulminanter Darstellung und Verwirklichung drängt und im Rückzug in die Klinik mehr Resonanz findet, als wenn er psychopharmakologisch im Ansatz erstickt wird. Der Anspruch des Schizophrenen auf die Krise ist bei solcher eskalativer Entwicklung besser nicht zu verwehren, sondern als organischer Ablauf des psychischen Geschehens auch in seiner Steigerung zum Extremen zu gewähren, von welchem aus sich eine ernüchternde Rückkehr zur Normalität als leichtester Heilsweg anbahnen mag. Der Weg zur Gesundheit führt da manchmal über die Krankheit. Hospitalisierungsgründe gegen den Willen des Patienten müssen hingegen erheblich sein und sind nie durch die Psychose allein gegeben, sondern müssen Selbst- und / oder Fremdgefährlichkeit beinhalten. Viele Schizophrene fühlen sich am ehesten in der Unstete des Lebens geborgen. Sie wandern von einer Stadt zur anderen, schreiben uns Briefe bald von den Bahamas, dann aus dem Orient, aus der ganzen Welt, und verbringen während eines psychotisch durchlebten Jahrzehnts nur wenige Tage in Kliniken oder Untersuchungsgefängnissen. Oder sie verbringen die Jahre als Wandervögel im Dickicht der