Psychiatrie in Bewegung. Mario Gmür. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Mario Gmür
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783907301074
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Zürich antrat, sahen Lebenswelt und Psychiatrieszene anders aus als heute, weltweit und in der Schweiz. Vieles war nicht oder nur wenig bekannt: Laptops, Smartphones, Lokalradio und -fernsehen, tägliche Gratiszeitungen, Spielbanken und Spielsucht, Heroin und Heroinabhängige, Methadonbehandlungen, eine Vielzahl von heute gebräuchlichen Psychopharmaka. Die psychiatrischen Kliniken waren überwiegend geschlossen und Elektroschocks noch eine gängige Behandlung. Viele heutzutage selbstverständliche Dinge und Einrichtungen erlebte ich im Prozess ihrer Entstehung. Ich habe sowohl die Öffnung und Liberalisierung der Psychiatrie mit dem Aufschwung der Sozialpsychiatrie bis zu den neunziger Jahren als auch die seither erfolgten restaurativen Rückschritte mit dem Aufkommen einer kalten algorithmischen Diagnostik und einer repressiven Psychotherapie, besonders in der Gerichtspsychiatrie, erlebt.

      Während meiner Tätigkeit als Psychiater – bis 1989 in psychiatrischen Kliniken und sozialpsychiatrischen Behandlungszentren und seither in der freien Praxis – war es mir immer wieder ein Bedürfnis, mich zu jeweils aktuellen und zum Teil umstrittenen gesellschaftspolitischen und psychiatrischen Entwicklungen zu äussern. Bei den publizierten Erfahrungsberichten, Konzeptualisierungsversuchen und kritischen Stellungnahmen war mir deren allgemeinverständliche Form Anliegen und Verpflichtung.

      Der vorliegende Sammelband, der auch biografische Texte enthält, ist kein nachträglich verfasstes Erinnerungsbuch, sondern eine Zusammenstellung von unveränderten Originalbeiträgen in Zeitungen, Zeitschriften und Büchern. Sie gibt dem Leser auch Anregung, sich auf die Ursprünge heutiger Gegebenheiten zu besinnen.

      Zürich im Dezember 2017, Mario Gmür

      SCHIZOPHRENIE

      1.Der Schizophrene als Partner in der hausärztlichen Behandlung

      Aus: Schweizerische Medizinische Wochenschrift 112 (1982): 1735–41, April 1980

      Die Entwicklung der Psychiatrie im letzten Jahrzehnt war gekennzeichnet durch den Trend zur Dezentralisierung des psychiatrischen Geschehens von der zentralen Großklinik in den peripheren Lebens und Wirkraum von Familie, Beruf und Krankheit. Die Fortschritte der Psychopharmakologie und die Errichtung sozialpsychiatrischer Einrichtungen (Nachtkliniken, Tageskliniken, Ambulatorien) haben zu dieser zentrifugalen Entwicklung beigetragen und gleichsam den Schizophrenen der Gesellschaft zurückgegeben. Die Behandlung des Schizophrenen, insoweit es dazu kommt, geschieht vermehrt im Ambulatorium und/oder in der hausärztlichen Praxis. Kernstück jeder Konsultation ist neben dem Krankheitsangebot des Patienten, welches das Heilungsritual des Arztes herausfordert, die einfache Begebenheit, daß ein Patient zu uns kommt und von uns geht. In diesem Kommen und Gehen des Patienten drückt sich eine Aktionsdynamik aus, die eine innere emotionale Bewegung wiedergibt, die ihre Resonanz in der ärztlichen Reaktion von Empfangen und Entlassen (mit einem neuen Termin für die Wiederholung dieses Konsultationsrituales) sucht. Der Ablauf «Begegnung, Trennung und Wiederbegegnung» stellt einen sozialpsychologisch-dialektischen Zirkel dar, dessen Handhabung zur kardinalen Bewährungsprobe in der ärztlichen Konsultation im verstehenden Eingehen auf den Patienten wird. Die oft hintergründige Motivation des Patienten konstelliert sich und tut sich uns in einer szenischen Situation kund, die durch das Erscheinungsbild des Patienten, sein Kommen, Fragen, Fordern und Gehen, geprägt wird. Hausarzt sein und Medizin praktizieren heißt da: Situationen erleben. Dies begründet die Notwendigkeit, das Wesen der Krankheit aus dem Situationskontext der Arzt-PatientenBegegnung zu begreifen und darzustellen.

      Situationen

       Der klinikentlassene Patient (Überweisungssituation)

      Als Folge der psychopharmakologischen und milieutherapeutischen Fortschritte werden Schizophrene heute häufiger als früher dem Arzt zur Nachbehandlung überwiesen. Diese Überweisung ist oft mit der Hoffnung und dem Auftrag verbunden, Rückfälle und Wiederhospitalisierungen zu vermeiden. Schon beim Lesen des Entlassungsberichtes ergeben sich dem Hausarzt Hinweise oder Fragen, die sich auf die Umstände der Entlassung beziehen: Ist der Patient geheilt entlassen worden? Steht er noch unter Psychopharmaka, die ihn vor einem Rückfall bewahren sollen? Ist er gegen ärztlichen Rat, vor der Ausschöpfung stationärer Möglichkeiten, vorzeitig ausgetreten, und hat die angeordnete ambulante Betreuung die Heilungs-und Besserungsschritte nachzuholen, die in der Klinik unterlassen wurden? Ist der Patient krankheitsbewußt und zur Nachbehandlung freundlich eingestellt? Welche Vorstellungen und Erwartungen trägt er bezüglich der Behandlung in sich? Wird er kommen? Zum vereinbarten Termin? Soll ich ihn behandeln, wenn er sich dagegen sträubt? Ist die Diagnose mit ihm zu besprechen? – Diese Fragen beziehen sich auf die äußeren Randbedingungen im Vorfeld der Konsultation und finden oft keine eindeutigen Antworten, weil die Motive des kommenden oder ausbleibenden Patienten im Irrationalen begründet sein mögen: Der Patient ist zwar nicht krankheitsbewußt, aber kommt pünktlich zur Konsultation aus Gehorsam gegenüber der Anweisung des Klinikarztes. Er kommt, weil er sich gerne dem Ritual einer ärztlichen Spritze unterwirft, ohne daß ihn die sachliche und fachliche Relevanz kümmert. Oder er sieht im Arzt schlicht einen Gesprächspartner, dem er von Zeit zu Zeit einen Höflichkeitsbesuch abstattet und von dem er zuhörende Präsenz und tatkräftigen Beistand erwartet, etwa in Form eines Zeugnisses zur Befreiung vom Militärdienst oder anderer Dienstleistungen.

       Was geht im Schizophrenen Schizophrenes vor?

      Daß der Patient, der uns aufsucht und den wir für 10–30 Minuten in unserer Agenda eingeschrieben haben, schizophren ist, wissen wir oft nur vom Hörensagen oder von Krankheitsberichten, manchmal von persönlicher früherer Erfahrung mit ihm. Nichts weist im gegenwärtigen Moment darauf hin, daß da eine Schizophrenie vorliegt. Er ist voll besonnen, freundlich, gesprächig. Vielleicht etwas kontaktarm, wortkarg und gefühlsmäßig stumpf, oder er zeigt einige sonderlingshafte Merkmale. Zeichen einer Schizophrenie? Residualsymptome?, oder Wetterleuchten eines herannahenden schizophrenen Gewitters? Uns interessiert, was sich in seinem Innenleben abspielt, aus welchem wir einige Signale empfangen. Ein Eindringen in seine Innenwelt durch bohrendes und symptom-orientiertes Fragen ist da wohl verfehlt, würde vom Patienten als ein verletzendes Herumstöbern in seiner Intimsphäre oder als ein Aufwühlen schmerzlich erlebter Vergangenheit empfunden. Die Psychopathologie leistet uns da einige Hilfe, allerdings nicht als ein Konglomerat von feststellbaren Einzelsymptomen, sondern als ein nachvollziehbares dynamisches System innerer psychischer Vorgänge, die sich, für uns wahrnehmbar und beobachtbar, an die Oberfläche als psychopathologische Symptombildungen projizieren. Nicht dieser Oberfläche des Symptombildes gilt unsere Zuwendung, sondern dem Geschehen im Patienten, das wir am besten zu erfassen vermögen, wenn wir Analoges im Gesunden suchen. BLEULER hat dieses Verständliche etwa im Begriffe der Ambivalenz gefunden und geprägt, das jedem Menschen vertraut ist als Hin- und Hergerissen sein zwischen Wollen und Nichtwollen, Tun und Nichttun usw. Die Lebenserfahrung lehrt uns, daß demjenigen, wogegen wir mit besonderer Heftigkeit den Donnerkeil unserer Empörung schleudern, oftmals auch unsere besondere Zuneigung gilt. Zitate der Literatur bringen diese Widersprüchlichkeit zum Ausdruck. Etwa: «… ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft …», «Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust».

      Nach BLEULER hat uns auch CONRAD [1] einen Schlüssel zum Verständnis der schizophrenen Vorgänge gegeben, der uns für die Einschätzung und Behandlung schizophrener Verhaltensstörungen in der Ambulanz als wertvolle Verständnisgrundlage dient. Im Zentrum der schizophrenen Erkrankung steht nach CONRAD die Veränderung als verändertes Bedeutungsbewußtsein: Der Schizophrene regrediert gewissermaßen vom kopernikanischen Weltbild des Gesunden zum ptolemäischen des Schizophrenen. Er rückt selber in den Mittelpunkt allen Geschehens, von dem aus er alle Vorgänge in sich und um sich auf sich bezogen erlebt. Er ist in einer diffusen Wahnstimmung, aus der er mit übersteigerter Aufmerksamkeit der Dinge harrt, die da sind und kommen und, ehemals zufällig und selbstverständlich, ihm jetzt bedeutungsträchtig vorkommen. Sie faszinieren, ängstigen, bedrücken, bedrohen ihn. In diesem Zustand der Auflösung nimmt er die Umgebung in deren hervortretenden elementaren Wesenseigenschaften wahr: Der Schimmel wird, aufgegliedert in die beiden Wesensmerkmale «Pferd» und «weiß», erfaßt und als das «pferdene Weiß» wahrgenommen