Invisible Sue - Plötzlich unsichtbar. Markus Dietrich. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Markus Dietrich
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783961859962
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einem Stück Stoff die Haut sauber und klebte vorsichtig ein Pflaster auf die Wunde unter dem Handgelenk.

      »Sie ist wach.«

      Funksprüche drangen durch die Nacht. Stiefel waren zu hören. Ein Hubschrauber kreiste irgendwo. Sirenen heulten. Sue öffnete die Augen. Sie erkannte ihren Vater. Er stand neben der offenen Tür des Krankenwagens und sah milde lächelnd zu ihr hinüber.

      »Ihre Tochter hatte heute mehr als nur einen Schutzengel.« Der Arzt, ein älterer Mann mit schütterem Haar, tätschelte ihr väterlich die Schulter und schüttelte dabei ungläubig den Kopf. So etwas hatte er in all den Jahren noch nicht erlebt. Angeblich war das Mäd­chen Mitten im Zentrum der Explosion gewesen. Aber bis auf eine kleine Schnittwunde war sie komplett unversehrt. Sues Blick fiel auf den Schnitt am Arm.

      »Ist nur ein Kratzer. In ein paar Tagen wird nichts mehr davon zu sehen sein.« Der Arzt krempelte Sues Pullover herunter. Sue richtete sich auf und beugte sich zu ihrem Vater. Die Umarmung tat gut. Beide sprachen kein Wort, sie waren einfach nur froh, sich in den Armen zu liegen. Sie spürte den Herzschlag ihres Vaters. Äußerlich wirkte er wie immer ruhig und gelassen, aber tief in ihm drin war er doch ziemlich aufgebracht. Schön, dass wenigstens er bei ihr war. Dabei ließ sie ihren Blick über den kleinen Platz vor dem Haupteingang zur DEC-Zentrale schweifen. Mehr als ein Dutzend Krankenwagen und Feuerwehren standen vor dem Hauptgebäude. Wahrscheinlich alle Einsatzfahrzeuge, die Mark­holm zu bieten hatte. Überall war Blaulicht.

      Ihre Mutter sah sie nicht. Typisch, dachte Sue. Die eigene Tochter war gerade haarscharf dem Tod von der Schippe gesprungen, aber Maria hatte nur ihre Arbeit im Kopf. Falls davon nach der Explosion noch etwas übrig war.

      »Und du kannst dich an nichts mehr erinnern? Ich meine, was genau ist da drinnen passiert?« Lenia, Mutters Assistentin, trat neben Christoph und sah sie fragend an. Sie wollte Antworten. Jeder hier wollte Antworten. Nur ihr Vater hatte nicht gefragt. Er hatte sie einfach nur in den Arm genommen.

      Sue sah Lenia mit großen Augen an und zuckte mit den Schul­tern. Sie konnte sich ohnehin an nichts mehr erinnern. Wann würden die Erwachsenen endlich aufhören, blöde Fragen zu stellen? Sie griff die Hand ihres Vaters und drückte fest zu. Der verstand sofort.

      »Wir sollten jetzt besser nach Hause«, sagte er zu Lenia.

      »Macht das. Drill wird sich sowieso früher oder später bei euch melden. Ich hab gehört, es soll eine Untersuchungskommission gebildet werden.«

      Eine Untersuchung. Das hatte gerade noch gefehlt. Jonas Drill würde sie nicht so einfach davonkommen lassen und fragen, wie eine Torte, matschige Kirschen und ein Haufen Schokoraspel in sein super teures Hightech-Labor gekommen waren.

      »Ich fand deine kleine Geburtstagsüberraschung übrigens echt cool«, sagte Lenia, zwinkerte ihr zu und gab Sue das ungeöffnete schwarze Paket. Das Geschenk für Maria hatte den Unfall scheinbar wie durch ein Wunder überlebt. Sue nahm es dankbar an sich.

      Christoph schob Sue sanft zum VW-Bus, der etwas verloren zwischen den vielen Feuerwehren parkte. Und dann sah Sue Maria. Ihre Mutter stand direkt am Eingang, ihren Mantel fest um sich geschlungen, direkt neben Jonas Drill. Der schrie laut und machte seinem Ärger Luft, redete auf Maria ein, deutete immer wieder auf das Gebäude hinter sich und schüttelte den Kopf.

      Sue stieg in den Bus. Tränen liefen ihr über die Wange. Zorn stieg in ihr auf. Ihre Mutter hatte sich nicht mal erkundigt, ob sie den Unfall gut überstanden hatte. Nichts. Keine Hände gehalten, kein Kuss, keine Umarmung. Ihre Mutter war die schrecklichste Mutter, die man haben konnte.

      Christoph sah ihre Tränen und nahm Sues Hand. »Sie war die Erste am Unfallort«, flüsterte er. »Sie ist nicht von deiner Seite gewichen, bis der Krankenwagen kam. Glaub mir.« Sue zog ihre Hand weg. Das änderte gar nichts.

      Der Motor sprang diesmal sofort an. Christoph legte den ersten Gang ein und fuhr los. Immer kleiner wurden die blauen Lichter, immer unschärfer die roten Punkte der Feuerwehr. Sue lehnte sich an die Scheibe, wischte ihre Tränen ab und beobachtete die beleuchteten Fenster der vorbeiziehenden Stadt. Auf einmal spürte sie einen stechenden Schmerz. Er kam von ihrer Wunde und zog sich durch den ganzen Arm. Vorsichtig hob sie das Pflaster an und atmete erschrocken ein. Was war das? Die Wunde leuchtete hellblau. Das Licht flackerte, pulsierte kurz und erlosch. »Alles gut?«, fragte ihr Papa.

      Sue nickte zögerlich. So hatte sie sich den Geburtstag nicht vorgestellt. Wie so oft wünschte sie sich eine Zeitmaschine, um das Geschehene wieder rückgängig zu machen …

      Ein Rucksack voll …

      Leider hatte sie keine Zeitmaschine. Und so schlug Thor, der Gott des Donners und Mitglied der berühmten Avengers, am nächsten Morgen mit seinem Hammer wie immer erbarmungslos gegen die Glocke.

      Sue erwachte nach einer furchtbaren und von Alpträumen geplagten Nacht. Sie war völlig verschwitzt, wollte nach ihrem selbstgebauten Thor-Wecker greifen, um dieses grauenhafte Gebimmel abzustellen, als sie merkte, dass etwas nicht stimmte.

      Blitzschnell richtete sie sich auf. Herbstsonne schien in ihr Zimmer und Supermoon, also der lebensgroße Pappaufsteller, den Sue von ihrem Vater zum zwölften Geburtstag bekommen hatte, grinste sie an.

      Sie wollte Thor mit ihrer linken Hand ausschalten, griff aber ins Leere und riss ihr Handy und die Kopfhörer ungeschickt zu Boden. Ihr linker Arm, der, der gestern Nacht im Auto noch blau geleuchtet hatte, war verschwunden. Er war weg. Einfach nicht da. Also, er war nicht wirklich weg. Aber man konnte ihn nicht sehen. Ihr Arm war unsichtbar. Was ist das?, fragte sich Sue erschrocken.

      Und dann passiert noch etwas absolut Merkwürdiges. Sue spürte einen bitteren Kloß im Hals, musste würgen, sah sich panisch um, griff ihren Schulrucksack neben dem Bett und … kotzte. Einmal. Zweimal. Sie würgte, gab animalische Geräusche von sich und sah dann, wie ihr Arm langsam wieder sichtbar wurde. Eisige Schauer liefen ihr über den Rücken. Es war grauenvoll und Sue musste hilflos mit ansehen, wie ihr gläserner Arm sich wieder zurück verwandelte. Samt Pflaster und blauer Flecken.

      »Sue? Bist du schon wach?« Christophs Stimme drang aus der Küche zu ihr und Schritte waren zu hören. Sue sprang auf, sie suchte nach einem passenden Versteck für den Kotzrucksack und stellte ihn dann direkt hinter Supermoon. In dem Moment kam ihr Vater herein und öffnete die Tür mal wieder ohne anzuklopfen.

      »Morgen«, flötete Christoph viel zu gut gelaunt. Er war ein echter Frühaufsteher und hatte normalerweise kein Verständnis dafür, dass man am Wochenende um elf Uhr immer noch schlecht gelaunt und müde am Frühstückstisch sitzen konnte.

      »Alles gut bei dir?«, fragte er. »Ich habe einen Schrei gehört.«

      Sue deutete auf Supermoon. »Wir … äh … haben nur geübt.«

      »Geübt?«

      »Den Mondschrei.«

      »Verstehe. Das macht sicher hungrig. Ich habe uns was zum Frühstück gemacht.«

      »Ist Maria da?« Sue biss sich auf die Lippe. Ihr Vater hasste es, wenn sie ihre Mutter beim Vornamen nannte.

      »Deine MAMA ist wie immer schon auf Arbeit.«

      War ja klar. Sue verstellte ihre Stimme und imitierte ihre Mutter: »Wenigstens einer in dieser Familie sollte sich realen Problem stellen.«

      Christoph lachte. »Achso … Wir haben nur noch zehn Minuten. Du solltest dich beeilen.«

      Schnell nahm Sue den Rucksack mit ihrem Erbrochenen, sah sich voller Ekel das Schlamassel noch einmal an und schob den Rucksack unter das Bett. Aus den Augen, aus dem Sinn.

      Laborratte

      Sue war extrem angepisst. Zum einen konnte und wollte sie nicht verstehen, warum sie ausgerechnet heute in die Schule musste. Immerhin war sie gestern dem Tod nur knapp entkommen. Aber ihr Vater war da leider anderer Meinung. Wie Eltern irgendwie immer.

      »Du hast einen kleinen Kratzer, mehr