Invisible Sue - Plötzlich unsichtbar. Markus Dietrich. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Markus Dietrich
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783961859962
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und überlegte, mit welch flottem Spruch sie dieses Malheur überspielen konnte. Sie räusperte sich.

      »Ja … Ich bin Tee.« Okay. Das war nicht unbedingt ein cooler Spruch. Das war eher peinlich. Mit seinem breiten Grinsen zeigte der Junge, dass er es ebenso verstanden hatte. Verdammt. Da wurde sie zum ersten Mal, seit sie sich erinnern konnte, von jemandem in der Schule angesprochen, und dann brachte sie nicht mal zwei vernünftige Sätze heraus. Sue räusperte sich und sagte: »Ich meine Tee. Das ist Tee. Pfefferminztee.« Das machte wenigstens halbwegs Sinn, auch wenn es nicht wirklich viel intelligenter klang.

      »Oh, trägt man das heute?«

      »Klar … Superhelden tun das.« Sie lächelte. Das war schon besser.

      »Okay. Ich bin Tobi. Tobias Grimm. Auch mit T, aber ohne Tee.«

      Tobi streckte altmodisch seine Hand aus. Sue, die vor Schreck ihren Supermoon-Comic fallen ließ und ebenfalls nach Tobis Hand greifen wollte, sagte:

      »Ich bin …«

      »… mein Becherhalter«, rief eine Stimme hinter ihr, schob einen viel zu heißen Kakaobecher in Sues geöffnete Hand und ergriff stattdessen Tobis.

      Der Becher war extrem heiß und Sue pustete instinktiv gegen ihre Finger, was nicht wirklich etwas brachte. Und während Evil Eileen sich frecherweise vor sie schob und mit ihren roten Lippen­stift­lippen grinsend den neuen Schüler begrüßte, wich Sue zurück, weil ein starker Schmerz ihren ganzen Körper durchzog.

      »Du bist der Neue, oder? Ich bin Eileen. Hier …«, sie reichte ihm einen Flyer, »Unsere Halloween-Party. DJ Goblin legt auf. Bist eingeladen. Wer im Kostüm kommt, hat freien Eintritt.«

      Sues Schmerz verschwand, dafür zog ein eiskalter Schauer durch ihren Arm, kribbelte wie tausend Ameisen und legte sich fröstelnd über ihren ganzen Körper. Sie atmete schneller, die Geräusche um sie herum verblassten und wurden dumpf. Es war, als hätte sich eine glibberige, eiskalte Maske über Sue gelegt.

      »Wo ist sie hin?«, fragte Tobi und schob Eileen, die gerade mit ihrem Handy ein Selfie machen wollte, unsanft beiseite.

      Doch das Einzige, was die überschminkte Dumpfbacke zu sagen hatte, war: »Wo ist mein Kakao?«

      Was meinte sie?, dachte Sue, die Eileen den noch immer dampfenden Kakaobecher hinhielt. Und da fiel es ihr auf. Ihr Arm war wieder nicht zu sehen, war verschwunden. Ihr anderer Arm auch. Sie schluckte. Konnte das sein? Ihr Herz raste. Wie automatisiert setzte sie sich in Bewegung und rannte Richtung Toilette. Sie hörte von weitem noch, wie Tobi rief: »Du hast deinen Supermoon-Comic vergessen.«

      Dann war Sue schon um die Ecke. Sie stieß beinahe mit einem händchenhaltenden Pärchen zusammen, konnte ausweichen, tou­chierte dabei den immer furchtbar gut gelaunten Ver­trauens­lehrer mit seinen Jesuslatschen, verlor beinahe das Gleichgewicht und stieß mit der Schulter und letzter Kraft die Tür zur Toilette auf.

      Wir sehen uns

      Zum Glück war die Toilette leer. Sue rannte zu den Waschbecken, drehte planlos sämtliche Hähne auf, bespritzte ihr Gesicht mit Wasser, so als könnte man die Unsichtbarkeit wie Dreck abwaschen und fluchte lautstark vor sich hin. Erst der Arm, jetzt der ganze Körper. Das konnte doch alles nicht wahr sein. Es musste etwas mit der blauen Flüssigkeit zu tun haben, auch wenn ihre Mutter beteuerte, dass die völlig harmlos sei. Lüge.

      Sie sah in den Spiegel. Aber da war nichts. Sue war komplett unsichtbar. Unsichtbar!!!! So etwas gab es in Geschichten und Büchern, in Superhelden-Comics oder billigen Horrorheften. Aber das hier war doch keine Geschichte. Sue stand im Hier und Jetzt, in einer nach Urin und Chlor stinkenden Schultoilette und fragte sich, was das ist und wie sie das alles wieder rückgängig machen sollte.

      Verzweifelt zog sie am Handtuchspender. Da ging direkt hinter ihr eine Spülung los. Verdammt. Sue drehte sich um. Ein Reiß­ver­schluss war zu hören, ein Deckel fiel knallend herunter, die mittlere Klotür ging auf.

      Ein Mädchen kam heraus, dass Sue nur flüchtig kannte. Sie war aus der Sechsten, jünger als Sue, trug langes braunes Haar und eine altmodische Jeansjacke. Als sie zum Waschbecken hinüber gehen wollte, hielt sie erschrocken inne.

      Beide Wasserhähne, die Sue panisch aufgerissen hatte, liefen noch. Wie im Reflex drehte Sue das Wasser ab. Das Mädchen wurde noch bleicher.

      »Scheiße«, sagte Sue laut. Unsichtbare sollten vielleicht keine Wasserhähne zu machen. Für das Mädchen musste es so ausgesehen haben, als hätten die Dinger sich wie von Zauberhand geschlossen.

      »Scheiße«, wiederholte sie noch einmal lauter. Vorsichtig drehte sie sich wieder um. Das Mädchen stand noch immer neben der Klotür und hatte sich keinen Zentimeter bewegt.

      »Ist da wer?«, fragte das Mädchen mit zittriger Stimme. In dem Moment machte der Handtuchspender noch einmal eine halbe Drehung und ratterte dann zwei Sekunden im Leerlauf.

      »Hilfe« entfuhr es dem Mädchen. Laut schreiend rannte sie auf den Flur hinaus.

      Na super, dachte Sue. Wenn sie sichtbar war, interessiert sich niemand für sie. Aber jetzt, wo sie plötzlich nicht mehr gesehen werden konnte, sorgte sie mit einem Mal für mehr Aufmerksamkeit als im gesamten Schuljahr. Sie musste von hier verschwinden. So schnell wie möglich. Noch einmal öffnete sie den Wasserhahn und ließ eiskaltes Wasser über ihre Hände fließen. Da war er wieder, der kalte Schauer, zog sich langsam zusammen, krabbelte wie tausend kleine Finger über ihren Rücken und ließ den Arm wie einen durchsichtigen Glaskörper erscheinen. Kurz darauf konnte Sue im Spiegel beobachten, wie auch ihr Körper erst wie milchiges Glas schimmerte und dann seine alte Form und sein altes Aussehen annahm. Sie wurde wieder sichtbar.

      Genau in dem Moment kam das Mädchen zurück in die Toilette. Allerdings nicht allein.

      »So, Jean, jetzt zeig mir doch mal, was du gesehen hast.«

      Frau Gunnarson hatte wieder ihren geringelten Schaf­woll­pull­over an, über den sich schon die halbe Schule lustig machte. Jean starrte völlig entgeistert zu Sue, die, für alle absolut sichtbar, vor den Waschbecken stand.

      »Guten Morgen Susanne«, sagte die Gunnarson.

      »Morgen!«, antwortete Sue höflich, darauf konzentriert, nicht panisch zu klingen.

      »Ich schwöre, eben war hier jemand. Also nicht sie. Sondern …« Jean war außer sich.

      »Sondern?« Frau Gunnarsons Neugier war nicht gespielt.

      »… jemand Unsichtbares.«

      »Aha!« Der Blick der Lehrerin verriet alles.

      »Hast du vielleicht etwas Ungewöhnliches gesehen?«, fragte Frau Gunnarson Sue und betonte dieses Wort »gesehen« besonders.

      Sue schüttelte den Kopf und dachte nur, hoffentlich passiert es nicht noch mal … hoffentlich passiert es nicht noch mal. Ihre Hände tropften noch, und instinktiv wechselte sie hinüber zum Heißluftföhn, der mit einem lauten Klick ansprang.

      »Aber es war hier. Ich hab’s gesehen. Also … nicht wirklich gesehen.« Jean kamen die Tränen. Sue tat das Mädchen irgendwie leid. Doch was sollte sie machen? Sie konnte ja schlecht zu Frau Gunnar­son sagen, dass sie eben noch vollkommen unsichtbar vor dem Spiegel gestanden hatte.

      »Du kommst jetzt erst mal mit mir mit. Und Susanne … wir sehen uns gleich.«

      »Äh … ja«, rief Sue.

      Dann schob Frau Gunnarson Jean freundlich, aber bestimmt aus der Toilette. Sue betrachtete ihren Arm, der unter der heißen Luft des Trockners schon wieder glasig wurde und zu verschwinden schien.

      »Hoffentlich sehen wir uns«, flüsterte Sue und schüttelte fassungslos den Kopf. Ein eiskalter Schauer übermannte sie, Arm und Ellenbogen waren schon wieder verschwunden. Dann kam dieser stechende Schmerz. Sue blickte erneut in den Spiegel. Aber sie war bereits wieder verschwunden.

      Heiß und kalt, dachte sie. Heiße Luft und kaltes Wasser.