Invisible Sue - Plötzlich unsichtbar. Markus Dietrich. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Markus Dietrich
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783961859962
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Sue, lauf!

      Sie war ein Freak. Gut. Das war sie vorher auch schon. Aber jetzt war sie noch viel freakiger, wenn es da überhaupt eine Steigerung gab. Sie musste jederzeit damit rechnen, unsichtbar zu werden. Ganz oder teilweise. Man würde sich über sie lustig machen, sie meiden, sie ignorieren. Okay, auch das tat man jetzt bereits. Trotzdem war nun alles noch viel schlimmer. Niemand würde es jetzt noch auf ihre »Pubertät« schieben und entschuldigen. Niemand!

      Man möchte meinen, dachte Sue, wenn man unsichtbar ist, sei alles viel einfacher. Die Leute sehen einen nicht, man kann bei Rot über die Ampel rennen, man könnte sogar nackt durch die Stadt laufen. Aber die Realität ist leider deutlich komplexer. Eben weil man unsichtbar ist. Die Leute sehen einen nicht und nehmen natürlich auch keine Rücksicht.

      Sue rannte schnell wie ein Blitz durch die Straßen, krachte mit drei oder vier Leuten fluchend zusammen, hatte Glück, dass die es auf ihre eigene Blödheit schoben und weitergingen.

      Sie sprang in die 23. Im letzten Moment, kurz bevor der Fahrer die Tür schloss. Einen Fahrschein brauchte sie nicht, einer der Vorteile von Unsichtbarkeit. Nur hinsetzen traute sie sich nicht. Was, wenn sich jemand genau da hinsetzen wollte, wo sie unsichtbar saß? So blieb sie lieber stehen und hoffte inständig, nicht plötzlich sichtbar zu werden. Keine Ahnung, was sie dann sagen sollte. Glücklicherweise aber blieb sie unsichtbar und musste nur aufpassen, dass sie den ein- und aussteigenden Fahrgästen genügend Platz machte, sodass diese sie nicht anrempelten. Der Bus fuhr in die Innen­stadt, rauschte vorbei an den gläsernen Hochhäusern des Finanz- und Bankenviertels, passierte die endlosen Betonbrücken und Stahlaufbauten am internationalen Flughafen und bog dann durch einen Tunnel in das vorgelagerte Industriegebiet ab.

      Gleich hinter dem Tunnel floss der breite Strom der Laar. An manchen Tagen sah man hier eines dieser riesigen Containerschiffe, die sich beinahe unwirklich, einer schwimmenden Stadt gleich, durch den engen Fjord schoben und den Hafen von Markholm ansteuerten. Am gegenüberliegenden Ufer stapelten sich seit Jahrzehnten gigantische Schiffswracks, die hier teilweise zerlegt und dann sich selbst überlassen wurden. Vergessen und mit wilden Büschen und Bäumen überwachsen. Früher war Sue hier oft mit ihrem Vater unterwegs gewesen, hatte sich verbotenerweise zwischen den leblosen Schiffskörpern herumgetrieben und sich Ge­schich­ten ausgedacht. Geschichten, die auf anderen Planeten spielten oder in einer geheimen Unterwasserwelt.

      Sue sah zu den kleinen Monitoren, die an der Busdecke hingen und auf denen es nur ein einziges Thema gab: der Unfall in der DEC.

      »Guten Morgen Markholm, hier ist Lisa Wells von News24 mit den neuesten Entwicklungen zur Havarie in der DEC am gestrigen Abend.«

      Scheinbar gab es eine Nachrichtensperre, denn zumindest Lisa Wells, die charmante Moderatorin von News24, konnte nur spekulieren. Es hieß, es habe ein Feuer in der Heizungsanlage gegeben. Vielleicht sei auch ein Tankwagen explodiert. Man wisse es nicht genau. Direktor Jonas Drill schwieg und ließ über sein Büro ausrichten, dass man alles unter Kontrolle habe und sich die Bürger Markholms keine Sorgen machen müssten.

      »Nächste Haltestelle Drill Enerschie Koporäschen«, nuschelte der Busfahrer, was übersetzt Drill Energy Corporation heißen sollte.

      Sue drückte auf den Halteknopf.

      Zischend öffnete sich die Tür. Sue sprang hinaus. Leider übersah sie dabei einen Dackel, stieg dem armen Hund volle Kanone auf den Schwanz, sodass dieser laut bellend und jaulend aufsprang.

      Sue ignorierte die verwunderten Fahrgäste und lief weiter. Direkt auf die DEC zu, wo noch immer Feuerwehrautos, Polizei- und Krankenwagen standen.

      Mama

      Heiß und Kalt. Sue dachte noch immer darüber nach, wie der Mechanismus funktionierte. Sie war unsichtbar geworden, als sie ihre Hände unter dem Heißluftföhn trocknen wollte. Und sichtbar, als kaltes Wasser über ihren Arm floss. Das war doch kein Zufall. Oder doch?

      Dieses Mal war es kein Problem, an den uniformierten Sicher­heits­­leuten vorbeizukommen. Zum Glück gab es weder Wärme­bild­kameras noch Bewegungssensoren. In Filmen zumindest waren Unsichtbare durch solche Kameras einfach zu entdecken …

      Vor den Toren der DEC parkten gepanzerte Fahrzeuge, weiße Zelte waren vor dem Hauptgebäude aufgeschlagen, Männer und Frauen in Schutzanzügen und Atemmasken liefen herum; die Pressemeute wartete ungeduldig und wurde natürlich nicht zum Tatort vorgelassen. Hubschrauber kreisten über dem Gelände und wurden von unbemannten DEC-Drohnen abgedrängt. Das ganze Areal glich einem Hochsicherheitsgefängnis, dachte Sue, mehr noch als zuvor. Was hatte Jonas Drill zu verbergen? Wie gefährlich war die Flüssigkeit wirklich?

      Um darauf eine Antwort zu bekommen, musste Sue ihre Mutter finden. Was sich als einfacher herausstellte als gedacht. Natürlich war ihre Mutter in ihrem Labor. Maria trug einen blauen Schutz­anzug und diskutierte gerade mit Lenia und Drill. Harmonisch schien das Gespräch nicht zu sein.

      Soweit Sue erkennen konnte, war das Labor bei der Explosion weniger schwer beschädigt worden, als zunächst angenommen. Wie allerdings der Reaktorraum aussah, konnte sie anhand der aus der Schleuse gebrachten Trümmer nur erahnen. Drill redete wild gestikulierend, drohte, schrie, drehte sich dann, ohne auf eine Antwort zu warten, um und verschwand. Was für ein Arschloch, dachte Sue.

      Erst jetzt spürte die Unsichtbare, wie müde sie eigentlich war. Jeder Schritt fiel ihr schwer. Selbst ihre Gedanken bewegten sich wie in Zeitlupe. Vielleicht war sie doch zu schnell gerannt oder vielleicht war die Unsichtbarkeit für ihren Körper anstrengender als gedacht.

      »Maria!« Sues Stimme klang kratzig, heiser und schwach.

      Ihre Mutter schaute sich verwundert um.

      Sue kam ins Straucheln, stützte sich an dem kleinen Labortisch ab, riss dabei Reagenzgläser zu Boden und rief: »Sorry!«

      Jetzt erkannte Lenia ihre Stimme.

      »Sue?«

      Sue spürte, wie ihr schwindelig wurde. Alles drehte sich. Sie verlor das Gleichgewicht und stürzte zu Boden.

      Die kalten Schauer und das Kribbeln waren wieder da, ihr Körper verkrampfte sich, ihr Arm wurde sichtbar …

      »Susanne?« Maria war wie vom Blitz getroffen.

      »Ich heiße … Sue«, flüsterte Sue und ahnte verschwommen, wie die beiden sie besorgt ansahen, immer noch fassungslos darüber, was da gerade passierte.

      »Ich …« Sues Stimme versagte. Maria kam näher, um sie besser verstehen zu können.

      »Ich … kann mich unsichtbar machen.«

      Dann wurde ihr schwarz vor Augen.

      Forschungsobjekt

      Sue erwachte in ihrem Zimmer. Supermoon lachte sie wie jeden Morgen freundlich an. Und in diesem Moment fiel ihr ein, dass sie ihren Comic gestern in der Schule vergessen hatte. Bei diesem, wie hieß er doch gleich, Tobi?

      Verdammt. Sie sprang auf. Warum war der Comic ihr erster Gedanke? Warum nicht ihr viel größeres Problem? Sie sah sich um. Sah an sich herab. Diesmal zumindest war alles so, wie es sein sollte. Mal abgesehen davon, dass direkt unter ihrem Bett noch immer ein Schulrucksack voller Kotze stand und stank.

      Ihr Handy summte. Die Nummer kannte sie nicht. Noch halb im Schlaf drückte sie auf das verschmierte Display und las: »Hi … Ich hab deinen Comic. Sehen wir uns in der Schle? LG«

      Schle bedeutete wahrscheinlich Schule. Und LG? Wer war LG? Warum gingen immer alle Leute davon aus, dass man ihre Kontakte gespeichert hatte. Aber wahrscheinlich war es dieser grinsende Tobi. Sue gefiel der Gedanke und sie spürte, wie ihr ein wohliger Schauer über den Rücken lief.

      Aus der Küche hörte sie Geklapper. Sie stand auf, tippelte barfuß über den eiskalten Boden, öffnete die provisorisch mit Tüchern zugehängte Glastür ihres Zimmers, ging zum Tisch im Winter­garten und setzte sich mit einem gruseligen