Invisible Sue - Plötzlich unsichtbar. Markus Dietrich. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Markus Dietrich
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783961859962
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wollte, schreckte mit leisem Aufschrei hoch. Was für eine unfassbar entfesselte Kraft. Vor ihr lag der aufgeschlagene Supermoon-Comic, ein Sammlerstück mit Alternativcover, von dem es weltweit nur einhundert Exemplare gab. Theodora hatte soeben ihre schlimmste Widersacherin Carol vom Ufer weggefegt und blickte Sue nun mit ihren großen weißen Augen an. Irgendwo in der Ferne klingelte ein Handy.

      Zu oft schon hatte Sue sich gewünscht, dass auch sie verborgene Superkräfte besitzen würde. Irgendwo, tief in ihr drin versteckt. Oder dass sie eines Tages auf der Straße von einem Unbekannten angesprochen würde, der ihr sagte, dass sie eigentlich eine Elfe sei, versteckt unter Menschen. Nur mit einem Zauber belegt, der ihr Gedächtnis manipulierte. Aber bislang war niemand aufgetaucht und ihr Körper war alles andere als der einer Elfe. Erneut klingelte das Handy. Diesmal lauter und länger.

      Sue sprang auf, zog ihre dunkle Kapuze tiefer in die Stirn, riss den zerfledderten Schulrucksack hoch und kramte panisch zwischen den zerknitterten Schulheftern und Comics herum. Wie spät war es? Sie hatte keine Ahnung.

      Noch im Rucksack aktivierte sie ihr Telefon und rief: »Ja?«

      Eine tiefe männliche Stimme meldete sich ungeduldig. »Wo steckst du?« Sue sah sich um. Der Klassenraum war leer. Keine anderen Schüler, kein Lehrer, und das spärliche Licht, das von draußen durch die Fenster drang, verhieß nichts Gutes. Es war schon wieder passiert. Sie war im Unterricht über ihrem Lieblingscomic eingeschlafen.

      »Äh … ich bin gleich da.« Sue klemmte ihr Telefon hastig zwischen Kopf und Schulter und verstaute ihren kostbaren Comic im Rucksack so, dass er keine Eselsohren bekam.

      »Hast du das Paket?«, fragte die Stimme.

      Sue erstarrte. Mist. Das Paket. Wo hatte sie es hingelegt?

      »Ja«, log sie und sah in ihrem Rucksack nach, wo es augenscheinlich nicht war. Die Stimme trieb sie ungeduldig an: »Beeil dich. Wir haben nicht mehr viel Zeit.«

      Sue rannte los. Etwas zu schwungvoll, denn mit einem unangenehm lauten Knall schlug ihr Telefon auf den Boden. Fluchend hob sie es auf. Der Riss auf ihrem Display war wieder ein Stück größer geworden. Nicht mehr lange und das Glas würde in tausend Stücke zerspringen. Von wegen Spider-App. Diese teuren Dinger waren einfach nicht für den Alltag geschaffen.

      Hastig steckte sie das Telefon in die Hosentasche, angelte sich im Vorbeigehen ihre Jacke von der Garderobe und drückte mit voller Kraft die Klinke der Tür herunter.

      Nichts geschah.

      Sue drückte nochmal. Die Tür war abgeschlossen. Sie kniff die Augen zusammen und versuchte Panik zu unterdrücken. Im Klassenzimmer eingeschlafen, die Tür verschlossen – das war der absolute Tiefpunkt dieser Woche. Hatten die Lehrer keine Auf­sichts­pflicht? Kraftlos klopfte sie gegen die Tür und rief: »Hallo? Hört mich jemand?«

      Natürlich nicht. Die Schule musste zu diesem Zeitpunkt beinahe leer sein. Wenn sie Glück hatte, kam irgendwann der Haus­meister vorbei, bevor sie hier drinnen verhungert war. Wieder donnerte sie mit den Fäusten gegen die Tür.

      »Hallo??? Ich bin hier drinnen eingesperrt …«

      Schritte näherten sich. Ein Schlüssel wurde ins Schloss geschoben. Sue trat einen Schritt zurück und Frau Gunnarson, Sues junge Klassenlehrerin, öffnete.

      »Susanne?«, fragte sie überrascht.

      »Ich heiße Sue«, erwiderte Sue genervt.

      Doch Frau Gunnarson ignorierte das wie immer.

      »Ich hab dich überhaupt nicht gesehen. Warst du noch hier drin?«

      Wo denn sonst?, dachte Sue. Scheinbar war sie auch für ihre Lehrerin wie für viele in der Schule einfach nur Luft. Egal ob sie hier war oder krank zu Hause, für die meisten existierte sie einfach nicht. Mal wurde sie im Sportunterricht einfach nicht aufgerufen, ein anderes Mal vergaß man sie bei der Klassenfahrt an der Rast­stätte. Angeblich hatte man ihr Fehlen nicht bemerkt. Auf jeden Fall blieb sie so das Hauptgesprächsthema auf der Rückfahrt, und sie musste sogar ganz vorn neben der Lehrerin sitzen, damit sich so etwas nicht wiederholte. Als wäre es ihre Schuld gewesen.

      Sue hatte jetzt keine Zeit, um mit ihrer Wollpullover tragenden Lehrerin über Aufsichtspflicht zu diskutieren. Sie schob Frau Gunnarson sanft, aber bestimmt beiseite und sagte im Vor­bei­gehen: »Danke. Aber ich hab’s eilig.« Ausgerechnet heute komme ich mal wieder viel zu spät, dachte sie.

      Hastig rannte sie den Gang entlang und verschwand im Trep­pen­haus.

      Roboter

      Wie Sue richtig vermutet hatte, war die Schule um diese Uhrzeit so gut wie ausgestorben. Der lange, hohe Kreuzgang im Erdgeschoss, wo vor zweihundert Jahren noch schweigend Mönche flanierten, war zur Hälfte in dunkle Schatten getaucht. Irgendein Putzmann schob seinen quietschenden Wagen müde und gedankenversunken Richtung Feierabend.

      Wieder klingelte Sues Handy. Sie ignorierte es und legte einen Schritt zu. Bei den grauen Spinden in der Haupthalle blieb sie abrupt stehen.

      Das konnte doch nicht wahr sein. Was war heute los? Aus­ge­rech­net vor ihrem Schrank wartete der schlimmste Alptraum ihres Lebens. Na gut, der zweitschlimmste, gleich nach ihrer Mutter.

      Evil Eileen, das scheinbar beliebteste Mädchen der Schule mit ihrer lauten und affektiert lachenden Clique. Eileen war in etwa so schlimm wie Carol. Für einen Moment wünschte sich Sue, Super­moon zu sein. Dann könnte sie Eileen und diese gackernden Hühner mit einem Wimpernschlag und einer kräftigen Welle einfach aus dem Weg räumen. Bei dem Gedanken musste sie kurz grinsen.

      Aber sie war eben nur Sue, oder Susanne, das graue unschein­bare Mäuslein aus der vierten Reihe, das am liebsten dunkle Pullis trug, ihre langen rotbraunen Haare unter einer großen Kapuze versteckte, Lippenstift und Make-up hasste, keine Freunde hatte und jede freie Minute nutzte, um sich mit Superhelden-Comics in wilde Abenteuer zu stürzen.

      Sue atmete kurz durch. Es half ja alles nichts, dieser Haufen geballter Mädchendummheit in Plüsch musste den Weg freiräumen. Jetzt!

      »’tschuldigung?«

      Die Mädchen zuckten nicht mal mit den Augen. Eileen verteilte irgendwelche grünschwarzen Flyer und sagte: »DJ Goblin wird ebenfalls auflegen. Ist das nicht mega? Mein Vater ist mit seinem Manager befreundet. Die kennen sich noch von der Schule. Er hat das alles für uns geregelt. Wir müssen nur noch die Flyer für die Halloween-Party …« Sie fand es einfach supercool, unablässig zu reden.

      Sue entschied sich, diesmal nicht klein beizugeben. »Ent­schul­digung«, sagte sie laut und eindringlich, »Dürfte ich kurz an meinen Schrank?« Sie wartete kurz und ergänzte dann: »Bitte!«

      Eileen, wie immer viel zu stark geschminkt, drehte sich langsam um und blickte Sue an. Also nicht wirklich. Sie sah durch Sue hindurch, so als wäre die eine graue Wolke Nichts und fragte: »Kennen wir uns?«

      Was für eine dämliche Frage. Natürlich taten sie das.

      »Ja. Wir sind …«, setzte Sue an. Aber wie immer beendete jemand anderes ihren Satz. In diesem Fall Chrissi, Eileens beste Freundin – wobei das Wort beste und Freundin nur oberflächlich zusammenpassten.

      »… in der gleichen Klasse. Wir sind in der gleichen Klasse.« Chrissi hatte die unschlagbare Begabung, nicht nur grammatikalisch falsche Sätze zu sagen, sondern zudem auch noch alle In­for­ma­tionen immerfort zu wiederholen. Vielleicht dachte sie, dass ihre Sätze dadurch an Bedeutung gewannen.

      Sue konnte es sich nicht verkneifen, sie musste das arme Mädchen verbessern. »Korrekt müsste es heißen: In derselben Klasse. Nicht der gleichen.« Sie grinste kurz und überlegte, ob sie diese Feststellung ebenfalls wiederholen sollte, ließ es dann aber sein.

      Die Clique starrte Sue an, als hätte die gerade die Urformel für die Entstehung des Universums vorgetragen. Ein schmalziger Pop­song unterbrach die peinliche Stille. Eileen hob ihr rosa Plüschhandy ans Ohr und säuselte mit zuckersüßer Stimme »Hi Gwen«. Dabei gab sie den anderen