Dieses ganze bunte Treiben bewegte sich zwischen den herrlichsten Denkmälern der Welt, in welchen die edelste Form und die grössten geschichtlichen Erinnerungen sich zu einer unaussprechlichen Wirkung vereinigten. Wir wissen nicht mehr, was diese Werke dem Sophisten des vierten Jahrhunderts und seinen Schülern sein mochten. Es war die Zeit, da dem griechischen Geist ein Lebensinteresse nach dem andern abstarb, bis auf die begriffspaltende Dialektik und das tote Sammeln. In alter, vielleicht fast unberührter Herrlichkeit schaute das Parthenon der Pallas Athene, schauten die Propyläen auf die Stadt hernieder; vielleicht war trotz dem Gotenüberfall unter Decius, trotz den Räubereien unter Constantin noch weit das meiste von dem erhalten, was im zweiten Jahrhundert Pausanias gesehen und geschildert hatte. Aber die reine Harmonie der Bauformen, die freie Grösse der Götterbilder redete nicht mehr vernehmlich genug zu dem Geiste dieser Zeit918.
Das Jahrhundert war ausgegangen, sich eine neue Heimat für seine Gedanken und Gefühle zu suchen. Für die eifrigen Christen war dieses irdisch-himmlische Vaterland gegeben: es hiess Palästina.
Wir wollen nicht wiederholen, was Euseb, Socrates, Sozomenus und andere über die offizielle Verherrlichung des Landes durch Constantin und Helena, über die prächtigen Kirchenbauten von Jerusalem919, Bethlehem, Mamre, auf dem Ölberg u. a. a. O. berichten. Bei Constantin war es ein ganz äusserliches Motiv, das ihn zu solchem Aufwand bewog; das Höchste, wozu er es in der Verehrung heiliger Gegenstände brachte, war eine Art von Amulettglauben, wie er denn die Nägel vom wahren Kreuz zu Pferdezügeln und zu einem Helm verarbeiten liess, deren er sich im Kriege bedienen wollte920.
In zahllosen Gläubigen aber erwachte unwiderstehlich der natürliche Drang, Orte, die dem Gemüte heilig waren, in Person zu besuchen. Es ist wohl wahr, dass der geistdurchdrungene Mensch solche Wallfahrten entbehren kann, dass sie das Heilige schon halb veräusserlichen, es gleichsam »an die Scholle binden« lehren. Und doch wird, wer nicht ganz roh ist, einmal wenigstens den Stätten nachgehen, die für ihn durch Erinnerungen der Liebe oder der Andacht geweiht sind. Im Verlauf der Zeit, wenn aus der Herzenssache eine Sitte geworden, wird das Gefühl des Pilgers wohl leicht in eine Art von abergläubischer Werkheiligkeit ausarten, allein dies beweist nichts gegen den reinen und schönen Ursprung.
Schon seit der apostolischen Zeit kann es nicht an frommen Besuchen derjenigen Stellen Palästinas gefehlt haben, welche mit den Erinnerungen des alten Bundes zwischen Gott und den Menschen die des neuen auf so erschütternde Weise verbanden. Vielleicht die erste weite Wallfahrt921 war die des kappadocischen Bischofs Alexander, welcher unter Caracalla Jerusalem – das damalige Aelia Capitolina – besuchte, »um des Gebetes und der Geschichte der Orte willen«. Auch Origenes kam, »um die Fußstapfen Christi, der Jünger und der Propheten aufzusuchen«. – Zur Zeit Constantins aber trifft die Sehnsucht nach Palästina schon sehr auffallend mit dem gesteigerten Kultus der Märtyrergräber und der Reliquien überhaupt zusammen922. Jerusalem ist gleichsam die grösste und heiligste aller Reliquien, an welche sich dann noch eine Reihe anderer Weihestätten ersten Ranges, viele Tagereisen lang, anschliessen. Aus dem Stationenbüchlein eines Pilgers von Bordeaux923, welcher im Jahre 333 das heilige Land bereiste, ersieht man, wie schon damals die fromme Sage, vielleicht auch die Spekulation, das ganze Land mit klassischen Stellen angefüllt hatte, an deren Echtheit später auch das Mittelalter nicht zweifelte. Man zeigte das Gemach, in welchem Salomo das Buch der Weisheit geschrieben, die Blutflecken des Priesters Zacharias auf dem Boden des ehemaligen Tempels, das Haus des Kaiphas und das des Pilatus, den Sykomorenbaum des Zachaeus, und so viele andere Dinge, welche den Spott der historischen Kritik herausfordern können. Einige Jahrzehnte später zählt Hieronymus in der Reisebeschreibung der Paula924 noch weit gründlicher die Stätten der Andacht von Dan bis Berseba auf. Er selber, sonst so besonnen in seinen Ansichten über die Reliquien, hat sich in Bethlehem für den Rest seines Lebens angesiedelt und alles, was an ihm hing, nach sich gezogen. Gegen das Ende des vierten Jahrhunderts lebt in Jerusalem und der Umgegend eine ganze grosse Kolonie frommer Leute aus allen Gegenden des Reiches in tiefer Entsagung925; »fast so viele psallierende Chöre, als es verschiedene Völker gibt«. Es waren darunter Okzidentalen von hohem Rang und grossem Reichtum, die alles zurückgelassen hatten, um hier in reinerer Stimmung auszuleben, als sie es sonst irgendwo vermocht hätten. Wem die Verhältnisse dies nicht gestatteten, der grämte sich; Hieronymus schrieb mehr als einen Brief, um solche zu beruhigen und ihnen zu sagen, dass die ewige Seligkeit nicht am Besuch Jerusalems hänge.
Und auch diese beneidete Existenz war keine ideale. Abgesehen von der äussern Gefahr durch räuberische Saracenen, welche bis vor die Tore von Jerusalem streiften, hielt sich noch ganz in der Nähe, im peträischen Arabien, in Coelesyrien das Heidentum mit einer verzweifelten Hartnäckigkeit; sodann trat das Dämonenwesen, welches schon so lange her in Palästina heimisch war, in so heftiger Gestalt auf als jemals. Wir kennen bereits Sanct Hilarion als Dämonenbanner (S. 477, 478); Hieronymus selber führt uns zu den Prophetengräbern unweit Samaria, wo eine ganze Anzahl Besessener auf Genesung warteten; weithin hörte man sie wie mit verschiedenen Tierstimmen heulen. Es sind gleichsam die irren Geister, welche über diesem Schlachtfeld aller Religionen, dem Land zwischen Jordan, Wüste und Meer herumschweben.
Eine merkwürdige Fügung hat es gewollt, dass Constantin auch in dem, was er für Palästina tat, weltgeschichtlich auf viele Jahrhunderte hinaus wirken sollte. Ohne den Glanz, welchen er über Jerusalem und die Umgegend verbreitete, hätte sich die Andacht der römischen Welt und folgerichtig die des Mittelalters nicht mit solcher Glut an diese Stätten geheftet und sie nicht nach einem halben Jahrtausend der Knechtschaft unter dem Islam wieder entrissen.
Fußnoten
779 Hist. Aug., Heliogab. 33.
780 Bereits absichtlich betont bei dem Zeitgenossen Praxagoras, s. Müller, Fragm. hist. Graec. IV, p. 2 τὸν μέγαν Κωνσταντι̃νον, τη̃ς μεγάλης αρχη̃ς τὸν άξιον επιζητούσης κ.τ.λ. wenn es nicht Zutat des Excerptors Photius ist. – Dann jedenfalls schon bei Eutrop. X vir ingens etc.
781 Der kleine Roman eines Ungenannten (dreizehntes Jahrhundert?) De Constantino magno eiusque matre Helena enthält nicht einmal eine Sage, sondern – mit Ausnahme des Schlusssatzes – bloss willkürliche Erdichtungen.
782 Die zugänglichsten Auszüge aus der Notitia u. a. bei Kortüm, Römische Geschichte, S. 418 ff. Fiedler, Römische Geschichte, in den Beilagen, u. a. a. O.
783 S. die bekannte Stelle bei Aurel. Vict., Epit. 14. – Vgl. Preuss, Kaiser Diocletian, S. 95 ff.