Fjorgaar - Der rote Vogel. Dorothea Bruszies. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dorothea Bruszies
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783956690976
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reden. Und Liz wird nicht aufhören, dich zu nerven. Aber ich habe gerade absolut keine Lust, mich einzumischen. Such dir eine andere Ausweichmöglichkeit. Tut mir fast leid.«

      Ben antwortet mit einem Stirnrunzeln, das kommunizieren sollte: »Verräter. Ich hasse dich. Mögest du dich auf alle Ewigkeit in der Sahara verlaufen. Weil ich genau weiß, wie schlecht du Hitze verträgst.«

      Arne grinste und kaute gemütlich weiter. Offensichtlich hatte er Bens wortlose Antwort verstanden.

      Liz schnippte ihre Finger vor Bens Gesicht. »Ey!«

      Resigniert drehte Ben sich wieder zu ihr.

      »Bisher dachte ich ja, du wärst einfach nur müde«, sagte Liz. »Aber du versuchst ganz eindeutig, mir auszuweichen. Das ist verdächtig.« Und triumphierend fügte sie hinzu: »Also kannst du mir auch gleich sagen, was los ist. Früher oder später finde ich es sowieso heraus.«

      Er hätte ihr antworten können und zugleich nicht. Er war müde, er hatte einen unangenehmen Traum gehabt. Nichts davon war aufsehenerregend oder ungewöhnlich.

      Abrupt stand Ben vom Tisch auf und ging zum Küchentresen hinüber. »Muss mal meine Post durchsehen«, warf er über die Schulter zurück. »Margaret hat mir bestimmt wieder einen Brief zum Geburtstag geschrieben.«

      Tatsächlich bestand Margaret, Bens Adoptivmutter, darauf, ihm regelmäßig handgeschriebene Briefe zu schicken. E-Mails hatte sie schon immer als furchtbar unpersönlich angesehen.

      Wie erwartet lag zwischen Geburtstagsglückwünschen seines Friseurs und Werbung ein großer Umschlag aus fester Pappe. »Für meinen Sohn«, stand über der Sendeadresse geschrieben. Und wie so häufig empfand Ben einen kurzen Moment der Verärgerung. Margaret schien es nicht unterlassen zu können, wieder und wieder darauf hinzuweisen, dass Ben ihr Sohn sei. Hatte daran, seit sie den damals neunjährigen Ben adoptiert hatte, irgendein Zweifel bestanden? Sicherlich mochte es die entfernte, äußerst unwahrscheinliche Möglichkeit geben, dass seine Eltern noch irgendwo ihr eigenes Leben lebten. Unter Umständen gab es sogar noch Verwandte, von denen er nichts wusste.

      Und vielleicht hatte Ben früher häufiger darüber nachgedacht. Denn in der Fantasie eines kleinen Jungen scheint Vieles möglich zu sein. Vor allem, wenn jener kleine Junge keinerlei Erinnerung an die Zeit vor seinem achten Lebensjahr hat, und wenn dessen ebenfalls unter Amnesie leidender Großvater die einzige Verbindung zu seiner Vergangenheit darstellt. Oder darstellte.

      Konnte man es Ben also übel nehmen, wenn er gewisse Anpassungsschwierigkeiten gehabt hatte? Daraus musste nicht zwangsläufig folgen, dass er Margaret nicht dankbar sei. Oder dass er sie nicht liebte. Sie war immer für ihn da gewesen. War immer geduldig und liebevoll, und auch wenn Ben sie mit ihrem Vornamen ansprechen mochte, war sie für ihn immer die Frau, die ihn großgezogen hatte.

      Ben drehte den Umschlag mit der Beschriftung nach unten, bevor er ihn aufriss.

      Zu seiner Überraschung fand er darin nicht nur einen dicht beschriebenen Bogen Briefpapier, sondern zudem ein unbeschriftetes, verschlossenes Couvert sowie ein Schmuckstück. Letzteres war das größte Rätsel, da Ben grundsätzlich keinen Schmuck zu tragen pflegte.

      Er nahm die Kette in die Hand. Die zarten silbernen Glieder lagen angenehm kühl auf seiner Haut. Damit hätte er sich vielleicht noch anfreunden können. Doch an der Kette war ein Anhänger befestigt. Ein etwa handtellergroßer, runder Anhänger. Golden und unverhältnismäßig schwer. Ein blauer Kreis mit fünf Unterbrechungen war auf die Oberfläche gemalt und in der Mitte saß ein ebenfalls blauer Edelstein. Das Schmuckstück sah aus wie ein mythisches Amulett, für das sich vielleicht Arne hätte begeistern können.

      Ben hingegen wusste nun wirklich nichts damit anzufangen.

      Mit einem Schulterzucken legte er die Kette samt Anhänger beiseite. Vielleicht hatte Margaret irgendwelche sentimentalen Gründe für dieses Geschenk und würde in ihrem Brief darauf eingehen.

      Ben warf einen kurzen Blick zu Liz und Arne hinüber. Seine Freunde schienen nun tief im Gespräch versunken zu sein, waren aber nur allzu offensichtlich darum bemüht, nicht in seine Richtung zu blicken. Sie wollten ihm also etwas Freiraum geben.

      Mit einem stillen Lächeln wandte Ben sich Margarets Brief zu. Die üblichen Floskeln bezüglich seines Wohlbefindens gingen über in die gewohnten Beschreibungen von teilweise sogar amüsanten oder interessanten Ereignissen. Entweder war Margaret in letzter Zeit sehr viel aktiver gewesen als Ben oder sie nutzte ihre lebendige Fantasie.

      Vermutlich war beides der Fall.

      Die Kette fand erst am Ende des Briefes Erwähnung. Und als Ben die Worte las, wünschte er, er hätte den Umschlag niemals geöffnet. »Sie gehörte deinem Großvater«, stand dort. »Du solltest sie zu deinem zweiundzwanzigsten Geburtstag erhalten. Zusammen mit einer Nachricht an dich.«

      Unwillkürlich fiel Bens Blick auf das unbeschriftete Couvert und er schloss die Augen.

      Schon seit Langem hatte jeder Gedanke an seinen Großvater ein vorzeitiges Ende gefunden. Er ist tot. Denk an was anderes, kam immer an die Oberfläche. Denk. An. Was. Anderes. Auch jetzt erging es Ben nicht anders.

      Dreizehn Jahre mochten in der Wahrnehmung anderer Menschen ausreichend Zeit sein, schlimme Ereignisse zu verarbeiten. Aber es war Bens Recht, anders zu empfinden! Und es war sein verdammtes Recht, schmerzliche Erinnerungen zu meiden. Schmerzliche Erinnerungen sowie das Fehlen einer Vergangenheit.

      Und nun war es sein Großvater selbst, sein toter Großvater, der Bens Gedanken in eine unwillkommene Richtung zwingen wollte.

      Ben ließ Margarets Brief auf den Tresen sinken.

      Er öffnete die Augen und starrte wieder auf das Couvert. Es wäre einfach, es nicht zu öffnen, es wegzuschmeißen oder zu verbrennen. Einfach oder unmöglich.

      Denn auch wenn sich alles in Ben dagegen sträuben mochte, war ihm doch klar, dass er die Nachricht seines Großvaters würde lesen müssen. Und sei es nur, um die ganze Angelegenheit danach wieder vergessen zu können.

      Bens Hände zitterten, als er das Couvert aufriss.

      In seiner Kindheit hatte Margaret ihn dazu gezwungen, einen Therapeuten auszusuchen. Verdrängte Gefühle und Erinnerungen, Stimmungsschwankungen und unkontrollierte Emotionsausbrüche hatte man ihm damals unterstellt. Und dies, wenn er ehrlich mit sich war, auch nicht zu Unrecht.

      Inzwischen ging es Ben deutlich besser.

      Nun jedoch fühlte er sich mit einem Mal, als sei er wieder ein kleiner Junge, der sich gleichermaßen verkriechen und wild um sich schlagen wollte. Das waren keine beruhigenden Anzeichen. Sollte er den Brief wirklich lesen?

      Wie aus großer Ferne starrte Ben auf die Schrift seines Großvaters hinunter. Zittrige Buchstaben reihten sich aneinander wie windschiefe Zaunpfosten. Es musste dem alten Mann sehr schwer gefallen sein, den Stift mit seinen von Gicht geplagten Fingern zu führen. Offensichtlich hatte er sich davon nicht aufhalten lassen. Seine altmodisch anmutende Schrift füllte in extravaganter Rechtschreibung das gesamte Papier.

      Und obwohl Ben sich nicht sicher war, ob er dies wollte oder doch lieber nicht, begann er zu lesen. Wörter verschwammen vor seinen Augen, Zeilen verschoben sich ineinander, als verlöre er jeden Fokus. Ben nahm vereinzelte Sätze und Bruchstücke auf und mit jedem Wort, das es in seinen Verstand schaffte, wurde es schwerer und schwerer, weiterzulesen.

      Es gibt so viles, das du noch erfaren und lernen musst.

      … kannst dich nicht erinnern, was passirt ist, bevor man uns im Wald gefunden hat. Das ist gut so.

      Ich habe meyne Erinnerung nimals verloren. Es tut mir leid. Ich habe gelogen.

      … solltest unbeschadet aufwachsen. Du warst noch so jung.

      … muss das von dir verlangen, was du nicht versten wirst. Und vermutlich auch nicht tun willst.

      Du musst dorthin zurückkeren, wo man uns gefunden hat! Zurück zu der Holzhütte.

      … wirst Fragen haben, aber bitte vertraue mir.