Und erneut ist Sanmaal überwältigt von der Faszination dieses Schauspiels. Für einen kurzen Moment ist sein Zorn vergessen und sein Körper scheint der eines anderen zu sein, ein fernes Bildnis von Krankheit und Zerfall. Es ist ein gefährlicher Gedanke, eine gefährliche Wahrnehmung. Denn auf keinen Fall darf Sanmaal seinem Geist gestatten, der Situation zu entfliehen. Er blickt seinem Untergang entgegen, und dies zu verleugnen, würde zu nichts weiter führen als seinem endgültigen Ende. Während Sanmaal die Realität vor jedermann verbergen muss, kann er selbst ihr nicht den Rücken kehren.
Und so, nur um neben seiner Gemahlin ruhen zu können, beginnt er unter größter Willensanstrengung damit, sein wahres Äußeres erneut zu verschleiern. Stück für Stück ruft er die Illusion des gesunden Mannes hervor.
Dieser Vorgang ist in seinen Grundzügen nichts Neues. Schon früher hat Sanmaal wiederholt sein Aussehen gänzlich verändert, auch wenn er von Natur aus mit einem anziehenden und vor allem vertrauenerweckenden Gesicht gesegnet sein mag. Sanmaal war niemals eitel, verachtet vielmehr jene, die sich alleine auf ihr wohlgeformtes Äußeres stützen. Doch gleichermaßen war er nie blind gegenüber der Wirkung eines freundlichen Lächelns in einem ansprechenden Gesicht. Und einen bestehenden Vorteil nicht zu eigenen Gunsten zu nutzen, ist nach Sanmaals Meinung die größte aller Dummheiten.
So war ihm sein Aussehen immer ein ebenso willkommenes Werkzeug wie auch die äußerst seltene Fähigkeit der Täuschung. Denn mit Wohlwollen angesehen zu werden, kann von ebenso großem Vorteil sein, wie von Zeit zu Zeit gänzlich unerkannt umherzuwandern.
Inzwischen jedoch muss Sanmaal seine Erscheinung unablässig und gewissenhaft formen, sich hinter der Maske der Normalität verstecken. Sollte seine wahre Gestalt ans Licht kommen, würde man ihn als letzten Überlebenden der Verräter erkennen. Als jenen, der sowohl seiner Hinrichtung als auch dem endgültigen Zerfall des eigenen Körpers entkommen ist. Zumindest bis zu diesem Zeitpunkt.
Sanmaal ist nicht bereit, aufzugeben. Wird niemals bereit dazu sein. Erneut kämpft sich Zorn an die Oberfläche seines Geistes und diesmal heißt er ihn willkommen. Er hält ihn, kontrolliert ihn, formt in der Wut die Kraft seines Willens.
Sanmaal öffnet seine Augen, die sich ohne bewusstes Zutun geschlossen hatten, und sein sonst so schneller Geist braucht ein paar Momente, bevor er versteht, was ihm nun aus dem Spiegel entgegenblickt. Oder vielmehr: wer.
Sanmaals Gemahlin war schon immer zart und liebreizend. Und selbst jetzt, mit ihren großen Augen voller Schock, erscheint sie ihm wie eine märchenhafte Erscheinung.
Er wendet sich zum Bett, wo seine Gemahlin nicht mehr schläft, sondern aufrecht sitzt.
Sie blickt ihm regungslos entgegen. Das Bettlaken ist von ihrem Oberkörper gerutscht und ihr weißes Nachthemd leuchtet fast so hell wie die Monde selbst.
Auch wenn Sanmaal inzwischen wieder aussehen mag wie immer, spricht der Gesichtsausdruck seiner Gemahlin eine furchtbare Wahrheit: Sie hat die Verwandlung gesehen, den Verfall, den er so angestrengt zu verbergen sucht.
Eine Träne löst sich aus ihrem Augenwinkel und rinnt über ihre rechte Wange wie zuvor das Blut über die seine. Unwillkürlich fasst Sanmaal in sein Gesicht und spürt Feuchtigkeit, entdeckt mit dieser Geste das Blut, welches seinen Körper noch immer bedeckt. Wortlos lässt er die Hand sinken.
Sein Schweigen trifft auf das ihre, als gäbe es nichts, das sie einander sagen könnten.
Sanmaal spürt die Stille des Raumes auf sich lasten, während er langsam auf seine Gemahlin zugeht. Sein vom Mondlicht geformter Schatten fällt auf das Bett und greift nach dem weißen Nachtkleid seiner Gemahlin. Furcht und Stärke sprechen gleichermaßen aus ihrem junggebliebenen Gesicht. Es ist ein wunderschönes Spiel der Emotionen. Sanmaals Gemahlin war schon immer ein Geschöpf der Gegensätze, und sie ist die einzige, der es jemals gelang, sanfte Gefühle und wahre Zuneigung in ihm zu erwecken.
Sie ist einmalig in seinem Leben.
Sanmaal spürt den Impuls, mit beruhigenden Worten auf sie einzuwirken. Er will sich erklären, sich rechtfertigen, obwohl er dergleichen niemals tut. Aber kein Laut gelangt über seine Lippen. Denn sie hat seine wahre Gestalt gesehen und mag geschockt sein. Doch sie ist keineswegs überrascht.
Enttäuschung liegt in ihrem Blick.
Und als Sanmaal mit einem letzten Schritt direkt vor dem Bett und vor seiner Gemahlin zum Stehen kommt, steigt furchtbare Traurigkeit in ihm auf. Es ist irritierend, eine neue und unwillkommene Emotion.
Wie von einem Sog erfasst beugt Sanmaal sich nach vorne, sinkt weiter in die Aura seiner Gemahlin. Bis nur noch eine Handbreit zwischen ihren Gesichtern liegt.
»Deine Augen schimmern rötlich«, flüstert sie ihm zu, und ihre Worte sind wie eine intime Berührung.
Sanmaal möchte sie spüren. Langsam hebt er die Hand zur Wange seiner Gemahlin, streicht über tränenfeuchte Haut hinab zu ihrem Hals, zu ihrer Kehle. Ihr Atem berührt seine Lippen wie in einem Kuss, der sein könnte.
Für einen kurzen Moment schweben Erinnerung und Versprechen zwischen Sanmaal und seiner Gemahlin. Doch in seinem Kopf wird alles übertönt von der Frage, die er nicht stellt: »Würdest du mich verraten?«
Er kann ihren Atem nun nicht mehr spüren. Stattdessen bohren sich ihre Finger in seinen Oberarm und sein Handgelenk. Sanmaal hat die Hand um ihre Kehle geschlossen und er wüsste nicht zu sagen, ob dies eine bewusste Entscheidung war oder nicht. Seine sonst so geordneten Gedanken sind verschwommen, als seien sie hinter einem Schleier verborgen.
Er verstärkt seinen Griff und legt die bisher freie Hand in den Nacken seiner Gemahlin. Letzteres ist eine Berührung, die ihm vollkommen natürlich erscheint. Eine Berührung, die bisher immer willkommen war. Doch dieses Mal setzt seine Gemahlin sich zur Wehr, windet sich in seinem Griff, zerrt erfolglos an ihm, an seinen Armen und Händen, schlägt nach seinem Gesicht.
Sie ist so wild und gleichermaßen so zerbrechlich.
Sanmaal legt seine Stirn gegen ihre. Er schließt seine Augen und verstärkt weiter seinen Griff. Im Körper seiner Gemahlin spürt er das Fließen der nurischen Energie. Es ist beinahe als würde sie vibrieren. Und jeder Punkt, an dem er ihre Haut berührt, fühlt sich so gut an, so belebend.
Sanmaal weiß, dass seine Gemahlin sich nicht nur mit ihrem Körper zu wehren versucht. Auch wenn sie nicht die Stärkste unter den Nuriern sein mag, kann sie die Energie für sich nutzen. Dennoch nimmt Sanmaal keinen unsichtbaren Stoß wahr, keine Gewalt außer der, die ihre hilflosen Hände ausüben.
Er weiß nicht, ob er sich in seinem momentanen Zustand gegen nurische Fähigkeiten zur Wehr setzen könnte. Und eine verlorene Stimme tief in ihm will seine Gemahlin anschreien, will ihr befehlen, sich mit allem zu wehren, was sie hat.
Aber vielleicht versucht sie dies auch? Die Energie in ihr dringt immer intensiver auf Sanmaal ein.
Sein Körper scheint in Flammen zu stehen. Und er spürt, wie sich die Risse und die Wunden in seiner Haut wieder zur Schau stellen, wie ihm die Beherrschung über sich selbst immer weiter entgleitet.
Sanmaal lässt sich nach vorne fallen, presst seine Gemahlin in die luxuriöse Matratze ihres Ehebettes. Sie fühlt sich so gut an unter ihm. Besser als jemals zuvor. Er küsst sie nun doch. Und auch wenn sie seine Leidenschaft nicht erwidert, auch wenn ihre Bewegungen schwächer werden, scheint sie das reine Leben auszuströmen. Es ist überwältigend und Sanmaal will mehr.
Purem Instinkt folgend, öffnet er sich seiner Gemahlin. Er öffnet sich ihrem Wesen, ihrer Kraft, ihrer Weiblichkeit, bis sie ihn in jeden Bereich seiner Existenz erfüllt.
Ihre Erinnerungen sind in ihm, als seien es die eigenen. Sanmaal sieht sich als junges Mädchen im Garten seiner Eltern. Er bohrt seine Finger tief in die feuchte Erde der Blumenbeete,