Fjorgaar - Der rote Vogel. Dorothea Bruszies. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dorothea Bruszies
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783956690976
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bist nun in dem Alter.

      Nimm das Amulett mit dir.

      Es gehörte deynem Vater.

      … sey vorsichtig und traue nimandem. Doch wende dich an den Alten Bund.

      Ben trat ruckartig vom Küchentresen zurück. Der Brief des Großvaters entglitt seinem Griff und schwebte unbeachtet zu Boden.

      »Nimm das Amulett mit dir. Es gehörte deinem Vater.«

      Unfähig, länger ruhig zu stehen, wankte Ben einen Schritt vor und zurück und vor, verharrte für wenige angestrengte Atemzüge und setzte sich wieder in Bewegung.

      »Ich habe meine Erinnerung niemals verloren.«

      »Ich habe dich angelogen und dir das vorenthalten, was dir wichtiger gewesen wäre als alles andere.«

      Ben fand sich vor dem Spülbecken seiner kleinen Küchennische wieder und nahm eine der ungewaschenen Tassen, von denen mehrere vor ihm standen, in die Hand. Diese Geste trug keine Bedeutung in sich, so wie in diesem Augenblick nichts wichtig oder real zu sein schien. Nichts, außer den Gedanken, die in Bens Kopf dröhnten.

      »Es gehörte deinem Vater und ich habe dich angelogen und nun bin ich tot und kann auf keine deiner Fragen mehr antworten.«

      Es war noch ein wenig abgestandener Tee in der Tasse. Versunken ließ Ben das Gefäß kreisen und starrte auf die Flüssigkeit, die sich, hin und her schwappend, seinen Bewegungen ergab. Oder sich ihm widersetzte. Denn war Ben in Kontrolle oder vielmehr die Schwerkraft? Und warum verschwendete er seine Zeit mit derartig sinnlosen philosophischen Überlegungen? Was könnte unwichtiger sein als abgestandener Tee? Der sich, verdammt nochmal, einfach nicht zu einer gleichmäßig fließenden Bewegung verleiten lassen wollte.

      Kann doch nicht so schwer sein.

      Mit seltsam abwesender Intensität nahm Ben die Schwere seines Atems wahr und die Anspannung in seinem Körper, und der Tee und die Tasse verschwammen vor seinen Augen ineinander. Und für einen Moment atemloser Stille erstarrte Ben innerlich und äußerlich, bis sich die Anspannung in plötzlich aufflammender Gewalt in seiner Hand entlud und Ben die Tasse samt Tee von sich schleuderte. Sie prallte gegen die Wand und zersprang mit einem antiklimatisch leisen und dumpfen Geräusch. Tee sog sich in Flecken und Spritzern und Streifen in das Weiß des Putzes, und Ben dachte mit ferner Belustigung, dass diese neue Wanddekoration wie ein sich übergebendes Nashorn aussah.

      Nach diesem kleinen Ausbruch hätte es ihm besser gehen sollen. Dem war allerdings nicht so. Ben schloss die Augen und versuchte, sich gegen seine Gedanken zu sperren und gegen die Emotionen, die an ihm zerrten.

      Es ist gut. Alles ist gut. Atme einfach weiter und denke an nichts. Alles ist gut. Dieses Mantra trug den Beigeschmack seiner Kindheit.

      »Alles in Ordnung, Ben?« Liz war neben ihn getreten, was kaum eine Überraschung darstellen sollte. Sie klang besorgt. Mitfühlend, obwohl sie nicht wissen konnte, was es war, das sie mit ihm hätte fühlen können.

      Ben wollte sich ihr zuwenden, wollte lächeln und ihr versichern, dass sie sich keine Sorgen machen müsse. Gleichzeitig wünschte er, sie möge einfach den Mund halten und ihn in Ruhe lassen. Er war zwiegespalten, hin und hergerissen zwischen Vernunft und einer brennenden Wut, die sich gegen seinen Großvater richtete. Und gegen Anderes, das Ben nicht benennen konnte. Es war jene altbekannte Empfindung, die kein greifbares Ziel finden konnte und sich deshalb in alle möglichen Richtungen entlud.

      Bens Augen waren noch immer geschlossen. Er rieb seine schmerzenden Schläfen. Bleib ruhig. Atme.

      Er hatte wirklich gedacht, diese Folgen seiner verlorenen Vergangenheit ein für alle Mal hinter sich gelassen zu haben. Auch wenn er hin und wieder zu launischem Verhalten neigen mochte.

      Atme.

      Liz legte eine Hand auf seine Schulter. Die Berührung war vorsichtig und gut gemeint. Ben schüttelte sie ab, noch bevor er die bewusste Entscheidung dazu getroffen hatte.

      »Alles in Ordnung«, stieß er hervor. »Ich habe nur …« Und dann fand er keine Worte, mit denen er diesen Satz hätte beenden können.

      »Schlechte Nachrichten?«, hakte Liz nach, ohne explizit oder missbilligend darauf hinzuweisen, dass ganz offensichtlich nicht »alles in Ordnung« sei. Und gerade in dieser Zurückhaltung erkannte Ben die Sorge seiner Freundin. Warum auch musste sie immer so aufmerksam und so hilfsbereit sein?

      Willst du ihr das wirklich zum Vorwurf machen?, fragte Bens innere Stimme. Aber wenn er nur für ein paar Augenblicke seine Ruhe hätte, könnte er sich wieder unter Kontrolle bringen. Er könnte diese überzogene Reaktion auf einen Brief hinter sich lassen. Auf einen Brief. Auf eine verdammte, vernichtende Lüge und …

      Ben atmete erneut tief durch, was zumindest seinem Tonfall zu helfen schien, als er sagte: »Ich denke, wir sollten unser Treffen für heute beenden.« Er fand, dass er ruhig klang, vernünftig und erwachsen.

      Aber natürlich war Liz nicht so einfach von einem einmal eingeschlagenen Pfad abzubringen. Sie schüttelte den Kopf. »Ich lasse dich jetzt ganz sicher nicht alleine.«

      Genau das war es jedoch, was sie tun sollte, befand Ben. Er wollte alleine sein. Oder etwa nicht?

      »Ich muss noch … was machen«, behauptete er, zu aufgewühlt, um eine glaubwürdige Lüge zu finden.

      »Tatsächlich? Und was wäre das?«

      Normalerweise hätte Ben nun in gespielter Entrüstung die Augen verdreht und nach einer hanebüchenen Ausrede gesucht, die ganz offensichtlich völliger Unsinn gewesen wäre. Liz hätte aus dieser Übertreibung gelesen, dass er sie nicht aus bösem Willen loswerden wollte, sondern einfach ein bisschen Zeit für sich brauchte. Dies war an sich nicht ungewöhnlich.

      Jene Fassade schien Ben nun jedoch nicht errichten zu können. Die Anspannung in ihm stieg weiter an und seine Hand, die zuvor die Tasse gehalten hatte, begann zu zittern. Oder vielleicht hatte sie das auch schon die ganze Zeit getan.

      »Ben …« Liz ließ nicht locker und sah aus, als erwarte sie eine Antwort.

      Er wich einen Schritt vor ihr zurück. »Lass mich!«, brach es aus ihm hervor. Seine erzwungene Ruhe glitt ihm langsam aber sicher aus den Fingern.

      Doch was andere vielleicht als Warnhinweis wahrgenommen hätten, so wie Ben es zwischen all den wirbelnden Emotionen tat, schien Liz nur weiter anzuspornen. Ihr Blick fand den am Boden liegenden Brief und sie ging in die Knie. »Was hat dir deine Mutter geschrieben?«, fragte sie. Ihre Hand bewegte sich dem Brief entgegen, und noch bevor Ben sich seines Handelns bewusst war, hatte er Liz unter den Achseln gepackt und zurück in eine stehende Position gezogen. Für einen kurzen Moment war sein Griff weder zurückhaltend noch vorsichtig, und er wollte Liz schütteln. Sie gab ein Geräusch des überraschten Protestes von sich. Bens zuvor so diffuse Wut loderte weiter auf, konzentrierte sich nun auf ihr neues Ziel und …

      Stopp.

      Ebenso plötzlich, wie er Liz gepackt hatte, gab Ben sie wieder frei. Er zuckte zurück, starrte seine Freundin an und sah nun auch Arne. Dessen große Gestalt erhob sich wie ein Schutzengel hinter Liz, während die Miene des jungen Mannes angespannte Vorsicht in sich hielt und auch den Hauch einer Drohung.

      Als sei ich eine Gefahr für meine Freunde. So gerne Ben diesen Gedanken auch als lächerlich bezeichnet hätte, konnte er sich doch nicht gegen die Wahrheit sperren. Er war Liz körperlich angegangen. Worte der Entschuldigung lagen auf seiner Zunge, doch sie fanden keinen Weg ins Freie. Und während Ben sich seinen Freunden auf unangenehmste Art und Weise gegenüber fand, schien er innerlich zu zerfallen. Er wusste, wie irrational er sich verhielt. Wie übertrieben. Und warum reißt du dich nicht endlich zusammen? Was bist du? Ein großes Baby? Er spürte, wie sich seine Wut nach innen richtete und nach außen, tobend nach allem greifen wollte, was erreichbar war. Sind wir darüber nicht schon längst hinweggekommen? Aber warum sollte er sich überhaupt zusammenreißen? Warum musste er immer …

      Warum hatte ihn sein Großvater belogen? Aber das ist noch nicht alles, nicht wahr? Du weißt