Fjorgaar - Der rote Vogel. Dorothea Bruszies. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dorothea Bruszies
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783956690976
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warum, warum. Wunderschönes Wort, nicht wahr?

      Liz und Arne standen noch immer regungslos da, taten nichts weiter, als ihn anzusehen. Was es wohl war, das sie vor Augen hatten? Was glaubten sie zu erkennen oder nicht zu erkennen? Ben fühlte sich entblößt. Und als Liz schließlich dazu ansetzte, etwas zu sagen, ließ er sie nicht zu Wort kommen. »Geht bitte«, stieß er hervor.

      Trotzdem wollte Liz sich ihm wieder nähern, wurde dieses Mal jedoch von Arne zurückgehalten. Eine stille Hand auf ihrer Schulter war ausreichend, ihre Bewegung in Richtung Ben zu unterbrechen. Und diese Tatsache alleine ließ eine erneute Welle aufwühlender Emotionen in ihm aufsteigen.

      Liz gab zu schnell auf. Ließ ihn zu einfach alleine.

      Und auch wenn Ben alleine sein und niemanden hören, niemanden sehen wollte, erschien ihm die plötzliche Kluft zwischen ihm und seinen Freunden wie ein schmerzhafter Stich in die Brust.

      »Geht!«, wiederholte er. Diesmal mit deutlich lauterer Stimme. Er hörte das Blut in seinen Ohren rauschen. Seine Hände waren zu Fäusten geballt. Die Spannung in seinen Fingern mochte schmerzhaft sein, doch bot sie ihm einen Anker, an den er sich klammern konnte.

      »Raus!«

      Liz und Arne traten in nahezu perfektem Einklang einen Schritt zurück. Und war das nicht wunderschön?

      Na los, lasst mich alleine. Was habt ihr hier schon zu suchen? Selbst mein Großvater wollte sich nicht mit meiner Anwesenheit quälen und mit meinen lästigen Fragen und diesen lästigen Lügen, die er mir immer wieder auftischen musste.

      In einer fernen Ecke seines Geistes wusste Ben, wie unsinnig es war, seinem Großvater dessen Tod zum Vorwurf zu machen. Doch diese Stimme der Vernunft war allzu leise.

      »Raus!«, stieß Ben erneut hervor, als sei dies das einzige Wort, das ihm verblieben war.

      Und dieses Mal folgten seine Freunde der Aufforderung tatsächlich. Sie taten es langsam und zögerlich, und Liz verharrte im Flur vor der Wohnung als überlege sie, wieder hereinzukommen. Doch dann schloss sie die Tür mit einem sanften Klicken.

      Das Geräusch füllte den Raum, obwohl es so leise war. Es hallte in Ben wider und verlor sich, bis nichts mehr zu hören war außer seinem hektischen Atem.

      Ben ging zur Tür, die ihn nun stumm anzublicken schien. Und plötzlich, mit voller Wucht, trat er gegen sie. Ein stechender Schmerz durchfuhr seinen Fuß. Er trat erneut zu.

      Der Schmerz entflammte eine grimmige Zufriedenheit in Ben, die er noch nie zuvor empfunden hatte. Dann riss der letzte Faden seiner Selbstbeherrschung. Ben trat gegen die Tür und die Wand und gegen Möbel. Er schlug um sich, prügelte auf seine Zimmereinrichtung ein, als sähe er sich seinen schlimmsten Feinden gegenüber. Die Spannung in ihm entlud sich in einer gewalttätigen Explosion, angefeuert von all den greifbaren Emotionen wie Zorn und Verletzung und jenen Gefühlen, die tiefer verborgen waren.

      Bücher fielen zu Boden, gefolgt von Zeitschriften und Stiften und Zimmerpflanzen und anderen Dingen. Eine Vase zersplitterte. Sie war ein Geschenk von Margaret gewesen. All diese wunderbaren Geschenke für deinen Sohn. Ist das nicht toll? Ben trat nach einer der größeren Scherben, seine Hände wiederholt zu Fäusten geballt, und dann verlor er gänzlich den Blick für das Geschehen. Es war, als senke sich Dunkelheit über seine Sinne.

      Und Ben hörte Stimmen. Fern und unverständlich, wie von einem schweren Schleier gedämpft. Jemand weinte. Es war ein Geräusch, welches Ben verzweifelt auszuschließen versuchte. Doch selbst als er mit den Händen seine Ohren verschloss, durchdrang ihn das Schluchzen. Es war außerhalb und es war in ihm. »Lass mich in Ruhe!« Während er diese Worte eben erst seiner besten Freundin entgegengeschleudert hatte, fielen sie nun von seinen Lippen in die Dunkelheit hinein. Nur dass die Dunkelheit nicht mehr vollkommen war. Ben stand am Fuße eines Krankenbettes und darin lag ein verschwommener Schatten. Es war sein Großvater. Es musste sein Großvater sein. »Ben«, sagte der alte Mann mit bis zu diesem Moment vergessener Stimme. Hinter dem Bett hing ein schwerer Vorhang. Er bewegte sich sanft in einem Luftzug, den Ben nicht spüren konnte.

      »Ben«, wiederholte der alte Mann. Die schattenhafte Kontur seiner Hand deutete in Richtung des Vorhangs. »Willst du es wissen, mein Junge?«

      Bens Blick folgte der Geste und blieb in der Betrachtung tiefen Blaus und weichen Stoffes hängen. Es fühlte sich gut an und vertraut. Wie ein Geheimnis, das niemandem gehörte als einem selbst. Der Stoff ruhte unter seinen Fingerspitzen, auch wenn er ihn nicht berühren mochte.

      »Willst du es wissen?«, fragte der Großvater. Er konnte nicht mehr als ein Traumbild sein. »Du verfluchst mich, weil ich dir die Wahrheit vorenthalten habe.«

      Der Vorhang bewegte sich noch immer wie von Geisterhand. Dies war ein typisches Motiv aus Geschichten, die Furcht hervorrufen sollten. Geschichten, die Angst schürten und nährten und dies vollbrachten, indem der Vorhang nicht gelüftet wurde. Dies war die Furcht vor dem, was man erahnte und nicht vor dem, was man wusste. »All die grausigen Möglichkeiten, die im Stocken deines Atems lauern und in den dunklen Ecken deines Geistes«, flüsterte Ben wie zu sich selbst. »All die schweigsamen Dinge, die zwischen deinen Worten ausharren und die ihre Kraft aus dem schöpfen, was sie nicht sind.« Sie sind nicht greifbar.

      Ben wusste, dass dieser Moment nichts weiter sein konnte als ein Traum, weshalb er sich die extravaganten Anwandlungen seiner Gedanken erlaubte.

      »Willst du wissen, was ich dir vorenthalten habe?«, fragte der Großvater.

      Dies war nur ein Traum, doch Bens Erfahrung mit Träumen war nicht die beste. Die Furcht, von der er eben noch so abstrakt gesprochen hatte, lastete schwer auf ihm. Und gleichermaßen erschien sie anders. Es war nicht der Vorhang, vor dem er Angst hatte, nicht das Geheimnis, welches hinter ihm lauern mochte. Oder vor ihm.

      Weicher, blauer Stoff umschmeichelte Ben, hielt den Geruch von Alter und Frische gleichermaßen in sich. Es fühlte sich an wie die Umarmung einer vertrauten Erinnerung. Ben war in Sicherheit. Nichts würde ihm hier passieren. Und er lachte das schelmische Lachen eines kleinen Kindes, das aus seinem Versteck heraus die Welt der Erwachsenen beobachtet und sich unbesiegbar glaubt.

      Ben fürchtete nicht das, was sich hinter dem Vorhang verbarg. Denn dies war er selbst. Er fürchtete den Blick auf die andere Seite.

      »Willst du es wissen?«, fragte sein Großvater. »Ich kann dir nicht vorenthalten, was schon immer in dir lag«, sagte der alte Mann. »Und du wütest und schreist und kämpfst und dabei müsstest du nur deine Hand ausstrecken und deine Augen öffnen. Alle Antworten liegen in dir.«

      Ben stand in der Umarmung des Vorhangs. Und er wartete und wartete und rührte sich nicht vom Fleck.

      Die vorherige Dunkelheit umschloss ihn wieder. Sein Atem klang harsch in seinen Ohren, doch ansonsten war es still. Die Stimme seines Großvaters ertönte nicht erneut. Ben fühlte sich verlassen, auch wenn sein Großvater niemals wirklich bei ihm gewesen sein konnte. Er war schon lange tot und Ben träumte und auf einmal durchzuckte ein brennender Schmerz seine linke Hand.

      Er riss die Augen auf und starrte auf die Scherbe, die blutrot aus seiner Handfläche ragte und seine Haut zu einem hässlichen Wulst zerrissen hatte. Auf der Scherbe war eine Blüte abgebildet, doch nur noch ein Bruchteil von ihr war erhalten. Margarets Geschenk. Ben erinnerte sich, wie er die Vase zerbrochen und nach den Überresten getreten hatte. Und dann …

      Eine vorsichtige Berührung an seiner Schulter ließ Ben erschrocken herumfahren. Vor ihm stand Liz.

      »Zweitschlüssel«, sagte sie mit einem reichlich misslungenen Lächeln und ließ besagten Gegenstand zwischen den Fingern baumeln. Ben blickte sie schweigend an.

      »Wenn du willst, kann ich wieder gehen«, seufzte Liz und Ben überraschte sich selbst mit einem amüsierten Schnauben. Du bist nicht unbedingt gut darin, zu tun, was man dir sagt. Beinahe hätte er seine Gedanken laut ausgesprochen, neckend und leicht, aber diese Form der Normalität trug einen seltsamen Beigeschmack mit sich.

      Ben war Liz körperlich angegangen, hatte sie nahezu aus seiner Wohnung gedrängt, wenn auch dies nur mit Worten