Macy kletterte wieder in den Wagen und berichtete: »Okay, es sollte nicht allzu schwierig sein. Folge mir einfach und lauf, so schnell du kannst. Bleib dicht hinter mir und sei möglichst leise. Wir wollen keine Hunde auf uns aufmerksam machen.« Ihr kam noch ein zweiter Gedanke: »Du musst auf meiner Seite hinausklettern, bei dir ist nicht genug Platz. Aber schlag die Tür nicht zu. Am Besten lehnst du sie einfach nur an.«
»Hört sich nach einem Plan an. Wie weit ist es?«, fragte Marcy mit einer Stimme, die ein wenig ängstlich klang.
»So weit wie von unserer Haustür bis zum Haus von Mr. Sanchez«, antwortete Macy. Die Entfernung auf diese Weise zu beschreiben war ein altes Spiel von ihnen. Ein Spiel, das Marcy kannte und das ihr vielleicht ein wenig die Angst nehmen würde. Eigentlich schätzte Macy die Entfernung um einiges größer ein, ungefähr von ihrer Haustür bis zum Haus der Christensons, aber sie wollte nicht, dass Marcy das mitbekam. Womöglich würde sie sonst noch ewig im Auto sitzen bleiben.
Nachdem sie noch einmal nach Raubtieren Ausschau gehalten hatte, öffnete Macy die Tür. Marcy kletterte über die Mittelkonsole, um auf der Beifahrerseite auszusteigen. Zwischen ihrem und dem anderen Auto war gerade genug Platz für die schmalen Mädchen, um sich hindurchzuquetschen. Mit einem leisen Klicken schob Marcy die Tür zu.
In der Hocke führte Macy sie durch den dichten Dschungel aus Autos. Bewaffnet waren sie mit einem Lineal aus Metall und einem Eiskratzer. Mit ihren Rucksäcken, die locker über den Schultern hingen, zwängten sie sich durch die schmalen Lücken zwischen den Autos. Sie stiegen über die Motorhaube eines Ford Escorts, der einen Toyota 4Runner gerammt hatte. Ab und zu stoppten sie und lauschten aufmerksam nach möglichen Gefahren, bevor sie ihren Weg zur Straßensperre fortsetzten.
Als die Betonsperren schließlich in Sichtweite kamen, zupfte Marcy ihre Schwester am Ärmel. »Du hast gesagt, bis zum Haus von Mr. Sanchez« protestierte sie atemlos. »Das hier ist viel weiter!«
»Komm schon, Marcy. Schau mal, es ist nicht mehr weit«, entgegnete ihre Schwester.
Hinter dem Heck eines schmutzigweißen Straßenkreuzers, eines Chevrolet Impala, gingen sie in Deckung. Um besser sehen zu können, richteten sie sich leicht auf. Schockiert stellten sie fest, dass mehrere Leichen vor ihnen lagen. Sie sahen aus, als wären sie von den wo auch immer hinter der Straßensperre liegenden Polizisten bei dem Versuch niedergestreckt worden, die Barriere zu durchbrechen. Dunkle, verschmierte Blutspuren wiesen darauf hin, dass sich Tiere an den Leichen gütlich getan hatten. Die Überreste waren über die Straße verteilt.
»Oh mein Gott«, sagte Marcy und hielt sich die Hand vor den Mund, bevor sie sich nach vorne gebeugt übergeben musste.
Macy starrte über das Blutbad hinweg und zwang sich, einen Ausweg zu suchen. Sie legte Marcy die Hand auf die Schulter und sagte: »Ich weiß, es sieht schlimm aus, aber schau mal da drüben. Durch die Lücke zwischen den Betonsperren und der Randbegrenzung können wir es schaffen. Den Stacheldraht darüber ziehen wir zur Seite. Ich denke, an der Stelle kommen wir auf die andere Seite.«
Marcy begann verzweifelt zu schluchzen. »Es stinkt wirklich furchtbar, überall liegen Leichen. Lass uns von hier verschwinden, bevor die Hunde zurückkommen.«
Macy bemerkte, dass Marcy kurz vor einem ihrer berühmten Zusammenbrüche stand. Sie griff nach ihr und zog sie hinter sich her. In der Hocke bewegten sie sich vorwärts, so schnell sie konnten. »Komm schon, Marcy. Wir schaffen das«, sagte sie.
Macy musste daran denken, dass sie und ihre Zwillingsschwester schon immer recht schmal gewesen waren. Sie waren dafür oft gehänselt worden. Aber jetzt, auf ihrer hastigen Flucht, war genau das ihr Vorteil. Sie zwängten sich durch die Lücke, vorbei an den Stacheldrahtrollen, die auf den Betonsperren lagen. Macy ging zuerst. Ihren Rucksack hielt sie von sich gestreckt in der Hand. Sie zog ihn durch die schmale Öffnung und griff dann nach Marcys Rucksack. Dann sah sie sich um. Jetzt war sie auf der Seite, welche die Polizisten abgeriegelt hatten. Nachdem Marcy ebenfalls hindurchgeklettert war, kauerten sich beide hin und überlegten, was sie als Nächstes tun sollten.
Wenigstens lagen auf dieser Seite der Straßensperre keine Leichen, obwohl die Zwillinge noch immer den Verwesungsgeruch in der Nase hatten. Vor ihnen standen vier Polizeiautos, die zu einem großen Pfeil ausgerichtet waren. Auf einem funktionierte noch das Blaulicht.
Im Verborgenen warteten und lauschten sie weiter und versuchten, aus der Situation schlau zu werden. Schließlich sagte Macy: »Ich glaube nicht, dass hier noch jemand ist. Wir sollten zum letzten Auto auf unserer Seite gehen und nachsehen, ob wir den Schlüssel finden können. Dann fahren wir weiter.«
»Du kannst doch kein Polizeiauto klauen!«
Macy ignorierte ihre Schwester und huschte zum Heck des nächstgelegenen Autos. Um nicht alleine zurückzubleiben, folgte ihr Marcy.
Keine lebende Seele war zu sehen, auch keine streunenden Hunde. Langsam schlichen die Zwillinge am ersten Auto vorbei. Auf der Beifahrerseite des nächsten Autos hockten sie sich hin. Dann richteten sie sich langsam auf und bemerkten einen in sich zusammengefallenen Körper, der auf dem nach hinten gestellten Fahrersitz lag. Macy erklärt diesen Kerl für »ziemlich tot«. Die Fahrertür stand offen. Es sah aus, als wäre der Mann schon vor Tagen gestorben.
Macy bückte sich wieder und schob den Kopf um das Heck des Autos. Plötzlich tauchte unmittelbar vor ihrem Gesicht ein Deutscher Schäferhund auf, der ihr ins Gesicht hechelte und sie zu Tode erschreckte. In Panik sprang Macy zurück und prallte auf Marcy. Beiden entfuhr ein entsetzter Aufschrei, dann gingen sie zu Boden.
Der Hund hatte sie entdeckt, lange bevor sie die Straßensperre erreicht hatten. Seit Langem waren ihm keine Menschen mehr begegnet, die nicht den Geruch der Krankheit an sich gehabt hatten. Das war interessant, also hatte er seinen Wachtposten verlassen, um sie sich näher anzusehen.
Zu Macys Erstaunen saß der Hund einfach nur da, den Kopf schräg zur Seite gelegt. Er betrachtete die am Boden liegenden Mädchen, als wären sie eine seltene Kuriosität. Dann stand er langsam auf, trottete zu ihnen herüber und beschnüffelte sie. Der Hund wirkte nicht bedrohlich, aber Macy erinnerte sich dennoch an die »Waffe« in ihrer Rechten und stieß mit dem Lineal nach ihm. Er setzte sich wieder auf seine Hinterläufe, hechelte und legte erneut den Kopf schräg.
»Zurück!«, schrie Macy.
Der Hund schien verwirrt, zögerte und senkte dann seinen Kopf nach unten. Offenbar wollte er zeigen, dass er friedlich war. Er schnaufte einmal und legte sich still hin, den Kopf auf den Pfoten, ohne den Blick von ihnen zu wenden.
»Bleib!«, rief Macy. Sie hatte beobachtet, wie die Nachbarn ihren Hunden Befehle gaben. Zu ihrer Überraschung hörte der Hund und blieb, wo er war. Langsam schob sie sich nach oben, bis sie wieder auf ihren Füßen stand. Ihr Lineal zitterte, das Adrenalin rauschte durch ihren Körper.
Der Hund rollte sich auf die Seite.
Völlig verblüfft griff Macy hinter sich, um Marcy auf die Beine zu helfen.
»Ich denke, er ist okay, Marcy«, sagte sie. »Er wird uns nicht fressen.«
»Wir dürfen ihm nicht vertrauen, Macy. Vielleicht spielt er nur mit uns und fällt uns bei nächster Gelegenheit in den Rücken«, gab Marcy zu bedenken.
In diesem Moment erinnerte sie sich an den heruntergefallenen Eiskratzer und sah sich vorsichtig danach um. Er lag ein paar Fuß entfernt. Langsam hob sie ihn auf, während sie den Hund argwöhnisch im Auge behielt. Aber er blieb völlig reglos und beobachtete nur ihre Bewegungen.
Als Macy das sah, beschloss sie, es zu riskieren. Sie hielt ihm ihre linke Hand hin, damit er daran schnuppern konnte. Ihr Vater hatte ihnen beigebracht, sich auf diese Weise Tieren zu nähern, die sie nicht kannten.
»Tu es nicht, Macy«, sagte Marcy.
Aber der Deutsche Schäferhund untersuchte nur vorsichtig ihre Hand. Erst beschnupperte er sie, dann leckte er daran. Macy begann seinen Kopf zu streicheln, und entdeckte dabei, dass er ein schwarzes Halsband mit einem Sheriffstern trug.
»Guck mal,