Graham hoffte, an dem Kerl vorbeizukommen, ohne dass er sie bemerkte. Hyun-Ok hatte geschrieben, dass Campos jeden anhielt, der die Stadt betrat, aber nicht diejenigen, die die Stadt verließen. Falls sie ihm doch über den Weg liefen, wollte Graham versuchen, vernünftig mit ihm zu reden oder ihm Lebensmittel anzubieten, damit er sie passieren ließ. Aber Graham würde die Waffe bei sich tragen und Bang sicherheitshalber links neben sich fahren lassen, damit er ihn schützen konnte, falls die Dinge außer Kontrolle gerieten.
Hoffentlich brachten sie einen der herrenlosen Pick-ups zum Laufen, um durch Fall City und Carnation nach Norden zum Rand der Cascade Mountains zu fahren. Dann könnte sie der Weg weiter bis nach Monroe bringen, aber Graham bezweifelte, dass sie auf dem Highway No. 2 ungehindert vorankommen würden. Besser, sie nahmen die Nebenstraßen um den See herum und dann nach Granite Falls. Von dort führte eine weitere Straße durch Darrington und dann schließlich zu den Cascade Mountains.
All diese kleinen Städte waren jetzt verwaist. Wenn sie in irgendwelche Schwierigkeiten gerieten, konnten sie jederzeit ihre Route ändern. Aber auf keinen Fall wollte er mit einem Fünfjährigen eine endlose Wanderung durch die Wildnis antreten.
Nun, da Grahams Plan feststand, brauchte er nur noch das Fernglas seines Vaters.
Graham vernahm ein knurrendes Geräusch, das aus dem kleinen Kerl kam, der jeder seiner Bewegungen wie ein Schatten gefolgt war. Mittagszeit. Noch einmal wärmte er den letzten Rest Bohnen auf. Diesmal verzichtete er auf Reis. Es reichte gerade für beide.
»Okay, Bang«, sagte er. »Wir müssen das Haus aufräumen, damit hier kein Chaos herrscht, wenn wir eines Tages wieder zurückkommen. Heute Abend starten wir mit den Fahrrädern, und ich weiß nicht, wann wir das nächste Mal eine Gelegenheit zum Schlafen bekommen. Wenn du also einen Mittagsschlaf brauchst, bevor wir losfahren, ist jetzt die Gelegenheit. Wie sieht es aus?«
Bang schüttelte hastig den Kopf und antwortete mit beleidigtem Blick: »Ich mache keinen Mittagsschlaf!«
Notiz an mich: Bang macht keinen Mittagsschlaf. Wenigstens lernte er den Jungen besser kennen.
Mit einem Blick auf Bang beschloss er, dass der Junge mehr warme Kleidung brauchte. Nachts wurde es jetzt schon ziemlich kalt. Im Fahrtwind auf dem Rad würde die Kälte ihnen noch mehr zu schaffen machen, bis sie ein anständiges Fahrzeug auftreiben konnten. Er durchsuchte den Kleiderschrank im Flur nach zusätzlichen Handschuhen und Jacken. Seine Beute bestand aus rosa Handschuhen, bei denen er sich nicht einmal traute, sie dem Jungen zu zeigen. Lieber gab er ihm eine seiner eigenen schwarzen Wollmützen und die schwarzen Wollhandschuhe seiner Mutter, die für alle Größen passten.
Während er den Schrank durchstöberte, ging ihm die Gefahr, Campos zu begegnen, durch den Kopf. Vielleicht war es sinnvoll, den Jungen und ihre Fahrräder in der Nähe zu verstecken und sich Campos allein zu Fuß zu nähern. Aber die Entscheidung musste warten, bis er sich selbst einen Eindruck von der Situation verschafft hatte. Wenn es stimmte, dass Campos für den Tod zweier Menschen verantwortlich war, wie Hyun-Ok geschrieben hatte, dann war er sicher in der Lage, noch mehr umzubringen. »Wie verrückt kann dieser Kerl sein?«, murmelte Graham. Die Antwort ließ nur noch ein paar Stunden auf sich warten.
Er betrachtete die Porträts seiner Familie, die seine Mutter im Flur aufgehängt und über die er oft gelästert hatte. Er suchte sich eines heraus, auf dem alle zu sehen waren und das klein genug war, um es in der Brieftasche mitzunehmen. In diesen Tagen trug er seine Brieftasche nur noch selten mit sich herum, aber für den unwahrscheinlichen Fall, dass diese Welt tatsächlich wieder zu sich kam, wollte er seinen Ausweis und ein Foto seiner Familie dabeihaben. Aber wenn er ehrlich war, verspürte er einfach das dringende Bedürfnis, sie alle auf diese Reise mitzunehmen.
Nicht in einer Million Jahren hätte er sich vorstellen können, dass er sich eines Tages mit dem Fahrrad und einem noch unbekannten Pick-up auf den langen Weg zur Blockhütte der Familie würde machen müssen. Vorbei an fiesen Typen und wilden Tieren, zusammen mit einem Jungen namens Bang und kurz vor dem Untergang der Menschheit. Wie sich das Leben in nur wenigen Monaten doch verändert hatte. Graham hatte nicht die leiseste Ahnung, wie es ihnen heute in einem Jahr gehen würde. Im Moment bestand seine Aufgabe lediglich darin, am Leben zu bleiben.
Die Sonne ging unter. Graham wärmte den restlichen Reis auf und bereitete nach dem Südstaaten-Rezept seiner Mutter eine dicke Soße dazu. Dazu ließ er Hirschfett in der Pfanne schmelzen, schwitzte Mehl darin an und rührte mit dem Schneebesen etwas Kondensmilch unter. Er verdünnte die Mischung mit Wasser und würzte großzügig mit Pfeffer und Salz. Sein Vater wäre stolz auf das Abendessen gewesen. Graham gab Bang eine Schüssel voll, die der Junge rasch hinunterschlang.
Nach dem Essen gingen Bang und Graham in den Garten, den seine Mutter bepflanzt hatte. Sie pflückten ein paar der verbliebenen kostbaren, verblassenden Rosen und brachten sie zu den sechs namenlosen Gräbern. Er ließ Bang die Rose für das Grab von Hyun-Ok aussuchen. Still standen sie da, in einem feierlichen Augenblick im Dunst des Sonnenuntergangs. Es bedurfte keiner Worte zwischen ihnen.
Graham glaubte in Bang etwas zu erkennen, worüber er andere ab und an reden gehört hatte: ein Kind mit einer alten Seele. Wie ruhig und wortlos er heute ihre Flucht mit vorbereitet hatte, mochte ein Hinweis darauf sein. Graham war sich sicher, dass sie gut miteinander auskommen würden, sobald Bang seine anfängliche Abwehr überwunden hatte.
Nach ihrer improvisierten Gedenkzeremonie ging Graham durchs ganze Haus, verschloss alle Fenster und stellte das warme Wasser und die Heizung ab. Nach einem letzten feierlichen Besuch auf der Toilette drehte er das Hauptwasserventil zu. Nachdem er sich überzeugt hatte, dass die Checkliste abgearbeitet war, verriegelte er die Eingangstür von innen. Es war, als würden sie gerade in Urlaub fahren.
Sie setzten ihre Rucksäcke auf und gingen in die Garage. Auf dem Weg schaltete er überall das Licht aus. Graham nahm sein Gewehr und schnallte es sich auf den Rücken, um es jederzeit griffbereit zu haben. Er setzte Bang den Helm auf und band ihm die Schuhe zu. Dann erinnerte er sich an etwas. Vor ein paar Wochen hatte er seinen Bogen aus Kindertagen und ein paar Pfeile gesehen, die gut verpackt in einem Köcher in einer Ecke der Garage standen. Er nahm den Bogen und zeigte ihn Bang.
»Gefällt er dir?«, fragte Graham. Bangs Gesicht leuchtete auf, und Graham meinte, den Anflug eines Lächelns entdecken zu können. Mit einem Gurt, den er ihm über Schulter und Rücken legte, befestigte er den Köcher an Bangs Hüfte. Das kleine Bogenset war perfekt für seine Größe, aber Graham hatte seine Zweifel, dass der Bogen bei der Verteidigung etwas nutzen würde. Dennoch war es eine gute Sache, wenn es Bang dabei half, sich etwas sicherer zu fühlen.
Nachdem er sich nochmals vergewissert hatte, dass keine unmittelbaren Gefahren drohten, öffnete Graham so leise wie möglich den Riegel des Garagentors. Sie schoben ihre Ausrüstung auf die immer dunkler werdende Einfahrt und schlossen das Tor hinter sich ab. Dann fuhren sie los, Seite an Seite. Graham zog den kleinen Anhänger, aus dem die Tragetasche mit den Waffen merkwürdig hervorragte. Keiner von beiden blickte zurück.
6| Bang
Dunkelheit hüllte die vom Herbst bunt gefärbten Bäume ein und nahm ihnen das Reizvolle, das sie bei Tageslicht innehatten. Für Bang muteten die Bäume stattdessen an wie furchteinflößende, riesige Goblins, wie Dokkaebi, Fabelwesen aus der Welt der koreanischen Märchen. Bang hatte immer gern seinem Vater gelauscht, wenn er ihm von diesen mythischen Störenfrieden erzählte. Manchmal waren sie danach in seinen Albträumen erschienen. Seine Mutter hatte immer versucht, seinen Vater davon abzuhalten, aber Bang hatte einfach nie genug haben können.
Die Dokkaebi waren dafür berüchtigt, ahnungslosen Reisenden Streiche zu spielen. Reisenden wie Bang und Graham. Sie manifestierten sich aus unbelebten Objekten und forderten den Eindringling zu einem spontanen Ringkampf heraus. Siegte der Herausgeforderte, durfte er passieren. Bang stellte sich vor, wie furchterregend es wäre, jetzt einem Dokkaebi zu begegnen. Er mochte