GRAHAMS PRÜFUNG (Survivor). A.R. Shaw. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: A.R. Shaw
Издательство: Bookwire
Серия: Survivor
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958351691
Скачать книгу
Graham zog ihn an den Schultern zurück und sagte: »Schau, Junge, wir müssen sie genau jetzt begraben. Du kannst entweder helfen oder zur Seite gehen. Zwing mich nicht, dich in einem der Zimmer einzusperren. Das Mindeste, was du jetzt für deine Mutter tun kannst, ist stark zu sein und mir zu helfen.«

      Graham wickelte die rote Blumensteppdecke um Hyun-Ok, so wie er es mit den anderen getan hatte. Zuerst stand Bang nur schluchzend daneben. Dann fing er an, über ihre eingewickelten Beine zu streichen. Als Graham begann, den Rest von Hyun-Ok zu umwickeln, bemerkte er eine Halskette, an der ein Medaillon hing. Er nahm die Kette ab, während der Junge zusah. Dann streckte er seine Hand nach Bang aus, der zurückzuckte und ihm offenbar misstraute, bis er erkannte, was Graham vorhatte. Er ließ zu, dass Graham ihm die Kette umlegte. Mit einem leisen, dumpfen Geräusch schlug das Medaillon gegen seine schmale, knochige Brust.

      »Sie hat ein Buch in der Tasche«, sagte der Junge und zeigte auf ihren grauen Mantel. Es waren seine ersten Worte, abgesehen von seinem Namen und »Nein«.

      Graham durchsuchte ihren Mantel und fand ein kleines, ledergebundenes Tagebuch.

      »Ist das für dich?«, fragte er. Bang zuckte nur mit den Schultern.

      »Nun, du nimmst es erst einmal«, entschied Graham. Er fuhr fort, Hyun-Ok zu umwickeln, und stoppte, als er ihr Gesicht erreichte.

      »Du kannst herkommen und dich verabschieden«, sagte er zu Bang.

      Der Junge zögerte, schniefte und küsste sie dann auf die Wange. Er umarmte sie noch ein letztes Mal und streichelte ihre langen, seidigen Haare.

      Graham sah nach draußen. Es wurde schnell dunkel. Er zog den Jungen sanft von seiner Mutter weg. »Okay, es ist an der Zeit. Wir müssen sie jetzt beerdigen.«

      Der Junge beobachtete, wie Graham ihr Gesicht mit der Decke umhüllte. »Nein, nein, nein!«, jammerte er wieder. Bang versuchte, die Decke herunterzuziehen. Um ihn daran zu hindern, musste Graham ihn festhalten. Er wusste, dass es dem Jungen das Herz zerriss, aber er hatte keine Wahl.

      »Pass auf«, sagte er, »wir müssen sie jetzt begraben, oder wir bekommen mehr Probleme mit den Hunden. Willst du das? Deine Mutter möchte, dass du in Sicherheit bist, dass du am Leben bleibst. Das schaffen wir nicht, wenn uns noch mehr Hunde aufspüren.«

      Bang sah elend und verwirrt aus und schüttelte nur den Kopf.

      »Also gut, lass uns das zu Ende bringen, bevor es komplett dunkel ist«, sagte Graham und warf sich das Gewehr über die Schulter.

      Er hob Hyun-Oks leichten Körper auf und führte die kleine Prozession hinaus zu ihrer letzten Ruhestätte. Der Junge weinte. Je näher Graham dem Grab kam, desto mehr kämpfte Bang, um die Decke wegzuziehen. »Hör auf damit!«, befahl Graham.

      Als sie das Grab erreicht hatten, legte Graham Hyun-Ok an den Rand ins Gras. Bang zog weiter an der Decke und legte die Füße frei. Graham stieß ihn weg. Unsanft landete Bang auf seinem Hinterteil.

      Nachdem er sich nach verwilderten Hunden und weiteren Raubtieren umgesehen hatte und keine zu entdecken waren, sprang Graham in das ausgehobene Grab. »Los Junge, hilf mir«, flüsterte er, aber Bang ignorierte ihn.

      Graham hob Hyun-Oks Körper in das Grab und setzte sie vorsichtig am Boden ab. Auf allen vieren beugte sich Bang über den Rand des Grabes und schrie wieder: »Nein, nein!«

      Graham ignorierte den Jungen und schaufelte Erde in das Grab, so schnell er konnte. Bang weinte und tobte. Graham fühlte sich schrecklich, es auf diese Weise tun zu müssen, aber die Umstände ließen ihm keine andere Wahl.

      Die Dunkelheit würde die Raubtiere mit sich bringen.

      Es war fast dunkel, als er fertig war. Bangs Schluchzen war in ein leises Wimmern übergegangen. Obwohl Graham emotional und körperlich erschöpft war, begann er, die über dem Grab aufgehäufte Erde zu glätten. Zu seiner Überraschung schob Bang seine Hände beiseite und begann, die Erde selbst glatt zu streichen. Graham ließ ihn gewähren.

      Ein entferntes Heulen durchbohrte das Schweigen des nächtlichen Gartens. Graham lief ein Schauer über den Rücken. »Okay, Bang, beeil dich und sage auf Wiedersehen.«

      Der Junge murmelte etwas, dass Graham für Koreanisch hielt. Er kniete sich neben Bang und senkte den Kopf. Er hoffte, seinen Teil getan zu haben, damit Hyun-Ok friedlich gehen konnte. Laut, sodass der Junge es hören konnte, sagte er: »Ich werde auf deinen Sohn achtgeben, genau wie ich es versprochen habe.« Graham hörte erneutes Weinen. Er streckte die Hand aus und half Bang hoch, der sich nun gegen seine Schulter lehnte.

      4| Die Glücklichen

      Sie waren die Glücklichen. Sie konnten ihre Toten begraben. Die meisten Familien, in denen niemand zu den zwei Prozent Überlebenden gehörte, wurden nicht beerdigt. Sie lagen in Krankenhausbetten, ihren eigenen Betten und manchmal in Fahrzeugen, gestorben bei dem Versuch, ein Ziel zu erreichen oder zu fliehen vor dem Zerrbild des Lebens, das sie einst gekannt hatten.

      Schon kurz nach Beginn der Pandemie hatten siechende und sterbende Menschen die Krankenhäuser überfüllt. Anfangs hatte man noch versucht, jeden Toten in einen schwarzen Leichensack aus Plastik zu packen. Bald waren die Vorräte verbraucht. Als sich die Krankheit weiter ausbreitete, war man dazu übergegangen, die Leichen auf Parkplätzen zu verbrennen. Zahllose Körper hatte man einfach liegen gelassen, damit sie verrotteten. Abhängig von der Umgebung beschleunigte oder verlangsamte die Natur den Verwesungsprozess.

      Der Geruch lockte Scharen von wilden Tieren aus den Wäldern in die Städte und Siedlungen. Sie erschienen unmittelbar an den Häusern und auf den mit schwarzem Asphalt bedeckten Straßen. Zahlreich säumten sie das Labyrinth der befestigten Wege, das über ihre Grenzen hinausführte. Angelockt vom Duft des verwesenden Fleisches füllten jetzt sie die Leere, die die fehlenden Geräusche der Menschen hinterlassen hatte. Aus alleingelassenen Haustieren wurden bald entweder Jäger oder Gejagte, die verwilderten und zu ihrer ursprünglichen Natur zurückkehrten. Häufig bildeten sie große Rudel und oft mischten sie sich mit Wildtieren.

      Kojoten, Wölfe, Bären und Luchse jagten ihre natürliche Beute, das Rotwild, das früher nur kurz in der Dämmerung zu sehen gewesen war. Jetzt war immer häufiger der Klang der Hufe von Wiederkäuern auf dem harten Asphalt und auf den Bürgersteigen zu hören. Aber es gab nur noch wenige menschliche Ohren, die das wahrnehmen konnten. Diejenigen, die es hörten, vernahmen ebenso oft die Geräusche der Wildnis, wenn die Beute durch Fänge und Klauen zu Tode kam. Die Überlebenden mussten stets selbst fürchten, einem wilden Raubtier zum Opfer zu fallen. Also blieben sie in ihren Unterständen und Schutzhütten, wo ihnen langsam aber stetig die Vorräte ausgingen.

      ***

      Graham setzte den Jungen ab und schloss die Tür. Der Wind frischte auf. Es begann wieder zu regnen. Bang stand nur da, reglos und benommen. Graham sah hinaus zu den Gräbern, jetzt sechs an der Zahl. Er lehnte seinen Kopf an das kalte Glas und kämpfte gegen die Verzweiflung, die ihn zu überwältigen drohte. Er dachte über die Antwort nach, die ihm sein Vater gegeben hatte auf die Frage: »Warum soll ich weitermachen?«

      »Du wirst einen Grund finden, oder der Grund wird dich finden.« Graham sah den Jungen an. Großartig! Mein Grund ist ein todtrauriges Kind?

      Graham seufzte und blickte auf seine mit Schlamm verkrusteten Stiefel. Er fing an, sie an der Fußmatte abzustreifen, merkte aber bald, wie sinnlos das war. Er zog sie aus und sah die Tennisschuhe des Jungen, die ebenfalls von Schlamm überzogen und zu schmutzig waren, um damit im Haus seiner Eltern herumzulaufen.

      »He, Bang, zieh die Schuhe aus«, sagte er.

      »Ich will nach Hause«, jammerte der Junge.

      Graham fasste ihn an den Schultern und drehte ihn zu sich herum, damit der Junge ihn ansehen musste. »Hör zu, deine Mutter hat die letzten Momente ihres Lebens damit verbracht, dein Leben zu retten. Sie hat dich zu mir gebracht. Ich habe versprochen, mich um dich zu kümmern. Das werde ich tun, bis du es fertiggebracht hast, getötet zu werden. Bis dahin wirst du tun, was ich sage und wann ich es sage. Und wenn du