Mel macht´s anders. Sina Seeland. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sina Seeland
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783945163139
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ganze Sätze, mit Anrede und Grußformel. Jaja, nennt mich alle spießig, aber das hat ihn schon einmal für mich eingenommen. Dazu kam, dass er einen fiesen kleinen, augenzwinkernden Humor besaß, der meinem nicht ganz unähnlich war. Ich musste mehrmals schmunzeln, als ich seine Mail las. Er hatte kein Bild in seinem Profil und während ich seine Zeilen las, brummelte ich vor mich hin, dass er bei meinem Glück bestimmt aussah wie eine Kreuzung aus Oscar aus der Mülltonne und altersschwachem Grizzlybär. Ich fragte ihn erstmal lieber nicht nach einem Foto. Und er schickte erstmal auch keines. Das machte mich etwas unsicher, aber auch neugierig. Wenn Tom einer dieser durchgeknallten Online-Psychopathen war, dann machte er seinen Job ziemlich gut. Bereits nach wenigen Tagen begann ich, mich auf seine Mails zu freuen. Und mich zu fragen, ob das eine gute oder eine schlechte Entwicklung war. Denn immerhin könnte es so sein, dass Tom gar nicht existiert. Oder aber ganz anderes ist als er in seinen Mails »klingt«. Ich bilde mir eigentlich ein, ein gewisses Gespür für Menschen zu haben, aber wenn man jemanden nur virtuell kennt, dann ist dieses Gespür schwer bis gar nicht anwendbar. Virtuelles Papier ist irre geduldig. Tom könnte ein alter, einsamer Knacker sein, eine Frau oder ein Teenager, der sich einen Jux mit mir macht.

      Ich versuche jetzt also, mich verhalten zu freuen. Gleichzeitig überlege ich, was ich Tom bieten will? Soll ich eine Riesenshow machen? So eine Art virtuelle Verkleidung, so ähnlich wie Strähnchen und Plastiknägel? Soll ich mich schicker und begehrenswerter machen, als ich bin und vor allem, als ich mich fühle? Gewicht ein wenig nach unten, Oberweite ein wenig nach oben, und Alter ist ja sowieso relativ … oder? Viele machen das so, das war mir bereits nach wenigen Tagen Mitgliedschaft bei der »Sinnlichen Suche« klar. Alles eine Riesenshow. Nee. Ich glaube, das ist mir viel zu anstrengend. Ich bin da ein eher bequemer Mensch und solche Flunkereien können ganz schön aufwendig werden. Wie alt hatte ich mich jetzt noch gleich gemacht? BH ausstopfen oder nicht? Und wenn er doch dahinter kommt, wie steh ich dann da? Nein danke. Zu stressig. Wozu soll ich mich anders darstellen, als ich wirklich bin? Käme ein Treffen mit Tom je in Frage, dann kämen all meine Ausschmückungen der Wahrheit ohnehin ans Licht und ich sähe aus wie ein unreifes, verunsichertes, Lügen erzählendes Huhn. Käme kein Treffen in Frage und man schreibt sich einfach nur eine Weile nett hin und her, dann ergibt doch dieser ganze Bluff von vornherein keinen Sinn. Ich bleibe also die, die ich bin. Ich werde einfach vorsichtig sein und ihm zunächst nur wenige Details über mich erzählen. Aber das, was ich erzähle, wird die Wahrheit sein. Und warum auch nicht? Tom schrieb mir dazu, er fände es schön, dass ich mich nicht verstellen würde. Ich fragte ihn, woher er das denn wisse und er meinte, er hätte da so eine Ahnung. Aha. Eine Ahnung.

      Das meiste, was ich auf dieser Online-Plattform vorfand, interessierte mich ziemlich schnell nicht mehr. Ich las ein wenig im Forum herum, das eine oder andere faszinierte mich auch und machte mich neugierig, aber im Großen und Ganzen wurde meine misanthropische Grundeinstellung durch meinen kleinen Auftritt bei »Sinnliche Suche« mehr als bestätigt. Die meisten Menschen sind einfach wirklich dumm und nervtötend und gerade wenn es um einen rein virtuellen Auftritt geht, geben sie sich auch wirklich keinerlei Mühe, das irgendwie zu verbergen. Geistlos, unhöflich, peinlich. Wieso vergessen Menschen, die sich online austauschen, gern, dass sie es mit anderen Menschen zu tun haben und nicht nur mit einer Maschine? Im Alltag geben sich die meisten Leute zumindest noch einen zivilisierten Anstrich, wahren die wichtigsten Formen und fallen nicht völlig unangenehm auf. Aber online gibt es da ganz offensichtlich keinerlei Hemmungen mehr. Wären da nicht die Mails von Tom gewesen, ich hätte das Experiment Online-Partnersuche recht schnell wieder beendet und mich zu meinen Büchern verkrümelt.

      Aber es gibt Tom. Und es gibt Jule, die mein Experiment »Wir suchen uns online einen Kerl« total spannend findet und jeden Tag nachfragt, wer mir denn jetzt wieder geschrieben hätte und wann ich denn nun endlich den ersten Kandidaten treffen würde. Ich gestehe, ich bin da auch ein Stück weit feige. Ich verstecke mich hinter dem Rechner und traue mich nicht so recht hervor. Tom hat mich bisher nicht nach einem Date gefragt und bisher wäre er der einzige, für den ich mich hinter den Tasten hervor in die Realität wagen würde. Aber das habe ich ihm noch nicht gesagt. Er soll ja nicht denken, dass ich es nötig hätte. Hab ich nicht. Und wenn Jule es nicht abwarten kann, soll sie sich selbst ein Profil basteln. So.

      So. 09.09.12

      Jule ist umgezogen und hat mich zu ihrer Einweihungsparty eingeladen. Natürlich wollte ich nicht gehen, denn Partys – noch dazu welche, auf die ich allein gehen muss und auf denen ich niemanden kenne – stehen auf meiner langen Liste von Dingen, die ich verabscheue, wirklich ganz weit oben. Am schlimmsten ist der Moment, an dem man durch die Tür tritt und alle schauen einen an. Mittelpunkt der Aufmerksamkeit sein steht natürlich auch auf meiner Liste. Ich meine … ich bin eigentlich nicht so eitel. Ich benutze kaum Make-Up, sondern arrangiere mich mit meiner vornehmen Blässe, ich weiß nie, was ich mit meinen Haaren machen soll, also klemme ich sie meist mit irgendeiner Spange an meinem Hinterkopf zusammen, ich bin ein wenig zu dünn und ein wenig zu flachbrüstig, um irgendwie spektakulär daherzukommen und ich mag meine ausgelatschten Chucks und ich mag Pullis, bei denen die Ärmel so lang sind, dass sie bis über die Hände reichen. Jule weiß das alles und hatte deshalb schon am Telefon gesagt »Gib dir etwas Mühe, es kommen ein paar sehr nette Single-Herren.« Bah. Kuppelaktion! Spätestens da wollte ich gar nicht mehr hingehen. Ich würde Schuhe mit Absatz tragen müssen und damit ständig umknicken und irgendein Outfit, an dem ich den ganzen Abend herumzupfen würde, weil ich mich darin nicht wohl fühlte … und so würde ich dann bei Jule in der Tür stehen und alle würden gucken. Die Männer würden einmal kurz schauen, überlegen, dass ich zu langweilig und unscheinbar wirke und sich dann dankenswerterweise wieder anderen Dingen zuwenden. Frauen sind da anders. Die gucken nicht einfach nur, die mustern. Dieses abschätzige Abscannen von Geschlechtsgenossinnen bei öffentlichen Veranstaltungen ist mir ein Gräuel. Wieso käme ich nie auf die Idee, so etwas zu machen? Ich meine, schließlich bin ich auch eine Frau. Aber mit diesen Damen, die im Partyfummel grüppchenweise herumstehen, zwischen den makellos manikürten Fingernägelchen den Stil eines Proseccoglases drehen, aufgesetzt über die nicht komischen Witzeleien der anderen kichern und die Neuankömmlinge mustern, habe ich etwa so viel gemein wie … keine Ahnung, meine Chucks mit einem Paar von Jules Killerstilettos von Jimmy Choo. Ja, Jule ist auch so eine. Oder eigentlich ist sie das zum Glück nicht. Sie ist unglaublich attraktiv. Ich habe sie vor vier Jahren bei so einem Media Meeting Event kennengelernt. Sie ist Resort-Leiterin in einem Verlag und sie war mir in der Runde am Stehtisch sofort aufgefallen. So wie jedem anderen, der an diesem Tisch stand. Blonde Haare, perfekt gesträhnt und gewellt bis fast in die Taille, veilchenblaue Augen, perfekt manikürte Hände, eine Figur mit sinnlichen Kurven, die sie umwerfend in Szene zu setzen wusste. Jule hat alles. Nur nicht die passende Zickenattitüde dazu. Und dafür liebe ich sie. Sie ist sehr entspannt und hat es nicht nötig, andere Stuten wegzubeißen. Sie ist einfach gern Frau und das merkt man ihr auch an. Dabei lacht sie laut und herzhaft wie ein Kerl und wenn sie Champagner trinkt, dann rülpst sie und murmelt danach »’Tschuldigung« und grinst. Wieso sie keinen Mann hat? Es ist mir ein Rätsel. Sie wurde ein paarmal sehr enttäuscht und ich glaube, sie hat einfach beschlossen, dazu so schnell keinem Mann mehr die Gelegenheit zu geben.

      Aber zurück zu den Party-Abscannerinnen. Wenn solche Damen mich sehen, dann schauen sie erst einmal in mein Gesicht, dann wandern ihre Blicke von oben nach unten und wieder nach oben. Dann ziehen sie eine Augenbraue in die Höhe und um ihre Lippen spielt ein kleines, mitleidiges Lächeln. Dann weiß ich, jetzt haben sie mich in die Schublade für kleine graue Mäuse gesteckt, die keine Konkurrenz darstellen, und der Moment ist vorbei. Das Ganze dauert vielleicht drei Sekunden, aber ich hasse jede dieser drei Sekunden mit Leidenschaft, weil sie mir a) immer endlos lang vorkommen und weil sie b) immer das Wenige zerstören, was ich an Selbstbewusstsein überhaupt habe. Ich mag mich so, wie ich bin, verdammt noch eins. Und ich würde nicht ums Verrecken mit einer dieser Proseccotussis tauschen wollen. So sehr kann ich mich nicht verstellen und wenn ich mich noch so anstrenge! Ich bin ok so, wie ich bin. Das Gefühl habe ich eigentlich immer. Also, meistens. Oft. Außer halt in diesen drei Sekunden.

      Ich bin trotzdem zu Jule. Sie hätte mir sonst wieder