JAGDGRÜNDE. Michael Mikolajczak. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Mikolajczak
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958352544
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      »Auf dem Damenklo reden sie täglich über ihn. Er ist ein kleines Hutzelmännchen. Ein pervertierter Bulle.«

      »Ein was?«

      »Pervers. Verkehrt, verdreht, regelwidrig. Du sollest öfter mal ein Buch in die Hand nehmen.«

      »Ja, Madame, werde ich.«

      »Ein vernünftiges Buch.«

      »Sicher.«

      »Kein Comic.«

      »Klar.«

      »Literatur.«

      »Litter-was?«

      Sie lachten.

      Milla schoss.

      Ihre Kugeln zerfetzten den Pappkameraden.

      – 16 –

      »Due Espressi.«

      Der Kellner verschwand vom Tisch, huschte unterwürfig zur Bar. Die Klimaanlage surrte leise und kämpfte erfolgreich gegen die Wärme der vielen kleinen Deckenlampen. Matt beleuchtete ihr Schein die dunklen, schlichten Holztische. Es war ein warmes, behagliches Licht und harmonierte mit den rot gestrichenen Wänden.

      »Denk nicht an sie.«

      Helens Blick war unstet.

      »Was hätte ich tun sollen, Helen?«

      Sie sah aus dem Fenster.

      Iacub fühlte sich wie ein Idiot. Wie gern hätte er die Zeit zurückgedreht, doch wozu, solange ihm der Mut fehlte, sich zu Helen zu bekennen.

      Er war ein Versager.

      Sie fühlte seine Hand auf der ihren. Es war Stunden zu spät. Traurig sah sie ihn an.

      »Schließ deine Augen.«

      Helens Vertrauen war erschüttert, doch es bestand. Ihre Lider schlossen sich, verharrten.

      »Darf ich jetzt?«

      »Ja.«

      Der Prospekt einer toskanischen Villa lag vor ihr. Das Anwesen mit Garten und Pool war ein Traum, ihr Traum. Schon lange hatte Helen gehofft, ihn mit Iacub zusammen Wirklichkeit werden zu lassen.

      »Alles Gute zum Geburtstag.«

      Eine Liebesreise, ein schönes Geschenk.

      Eine unpassende Geste.

      Iacub hatte sich vor Anne wie ein Lakai verhalten.

      Helen weinte.

      Iacub glaubte, Tränen der Rührung und Dankbarkeit zu sehen, und war froh. Helen hatte ihm seine Schwäche vergeben.

      »Ein Wochenende. Nur für uns.«

      Helen spürte etwas Kaltes an ihrem Finger. Erstaunt sah sie auf den Ring, den Iacub über ihren Knöchel schob. Ein Wirrwarr aus Gefühlen ließ ihre Stimme brüchig werden.

      »Er ist wunderschön.«

      Sie schluchzte aus Glück und Traurigkeit. Warm spiegelte sich das Licht der Lampe in dem Stein. Sie fühlte dessen Glätte, den präzisen Schliff, die schlichte Eleganz der Fassung.

      Plötzlich schrie Helen auf.

      Ein Gesicht drückte sich außen gegen die Fensterscheibe und starrte den Ring an. Ein Geflecht roter Adern in einem Gesicht voller Zahnlücken und brauner Zahnstümpfe lächelte Helen an. Gebrochene, schmutzige Fingernägel berührten das Glas, wollten hindurchgreifen und den Ring an sich nehmen.

      Helens Schrei vertrieb die obdachlose Frau. Ihr in Lumpen gehüllter Körper hastete davon, schob einen Einkaufswagen voller Pappkartons vor sich her.

      – 17 –

      Die Frau war keine vierzig. Das Leben auf der Straße hatte sie vorzeitig altern lassen. Ihre Bewegungen waren die einer alten Frau. Sie schleppte sich zum Park, dort war die Luft immer bewegt und umspielte die auf den Bänken Schlafenden. Es gab eine Rangordnung hier, und die Frau wusste um die geringe Hoffnung, eine Bank für sich zu finden. Hier herrschte das Recht des Stärkeren.

      Stoisch schob sie ihren Einkaufswagen über den von Wurzeln aufgestemmten Boden. Immer wieder stockten die Räder des Wagens. Die Frau fluchte und suchte nach einem geeigneten Ort für die Nacht. Dort würde sie sich aus den Pappkartons in ihrem Einkaufswagen eine Trutzburg bauen und sich darin zum Schlaf verschanzen. Ein geschützter Ort musste es sein, ein Ort unter Bäumen, zwischen Farnen und Gräsern.

      Der Park war voller Obdachloser, niemand sonst wagte sich bei Nacht hierher. Nur der Mond spendete Helligkeit, das Licht der Laternen im Park war erloschen, ihre Birnen durchgebrannt oder von leeren Bierflaschen Jugendlicher zerstört. Marodierende Horden von Teenagern hatten lange schon den Park für sich entdeckt, bevölkerten ihn bei Tag, mieden ihn bei Nacht. Die Dunkelheit und die Geräusche der Tiere dort nahmen den Kids ihren großmäuligen Mut. Freiwillig suchten nur die den nächtlichen Park auf, die keine Alternative hatten. Man sah sie nicht, und doch waren sie da. Sie schliefen auf überwachsenen Parkbänken, unter Bäumen und Sträuchern. Sie alle waren Unsichtbare. Die Blicke der Menschen, die in Häusern und starren Strukturen lebten, gingen durch sie hindurch.

      Die obdachlose Frau fand ihren Platz, legte sich zwischen zwei gewaltigen Wurzelsträngen einer alten Eiche nieder und hoffte, ihr Hab und Gut würde sich am Morgen noch im Einkaufswagen befinden. Sie sah sich um, starrte in die Dunkelheit, bis ihre Augen in der Lage waren, einen der Schlafenden zu erkennen. Er umklammerte seinen Rucksack, sein einziger Besitz. Er schnarchte, den Mund weit geöffnet und präsentierte dem Mond eine Reihe verrotteter Zähne. Lange würde es nicht mehr dauern und die verbliebenen Zahnstümpfe würden ausbrechen. Sein Zahnfleisch war entzündet, die Zahnhälse lagen blank, und hätte die obdachlose Frau an einem der Zähne gewackelt, so wäre er ausgefallen.

      Der Todesschrei eines Tieres gellte durch die Nacht und erstarb. Die einsetzende Ruhe war belastend.

      Die Frau hatte Angst. Die Augen weit aufgerissen, lauschte sie in die Nacht. Ihr Blick wanderte über die schwarzen Scherenschnitte der Bäume hin zu dem Obdachlosen in ihrer Nähe. Auch er war vom Schrei des Tieres erwacht und starrte nun zu ihr. Kurz kreuzten sich ihre Blicke, dann bettete er den Kopf auf das gesplitterte Holz der Parkbank und schloss in der Hoffnung auf einen Traum seine Lider.

      – 18 –

      »Es ist eine Schande. Die Stadt ist voller Müll und Dreck. Sogar der Park ist verrottet.«

      Im Licht des Mondes deutete Iacub zu einem Spielplatz. Vier Bänke umgaben einen Sandkasten. Auf jeder Bank schlief ein Mensch.

      «Du bist reich. Wenn es dich stört, dann unternimm doch etwas.«

      Er liebte Helen auch, weil sie sozial war. Nie hatte sie vergessen, woher sie kam. Ihre Eltern hatten ihr Leben lang gehofft, eines Tages zur Mittelschicht zu gehören. In ihrer Tochter hatte sich der Traum erfüllt. Helen hatte sich ihr Studium selbst finanziert. Ihr Ehrgeiz, es besser zu machen als ihre Eltern, und ihr Wunsch, Mutter und Vater glücklich zu sehen, hatte sie stets die Beste sein lassen.

      Helen hatte es geschafft.

      Ihre Schönheit hatte dazu beigetragen.

      Helens Noten waren zweitrangig gewesen. Ihre braunen Augen und ihr fast schwarzes Haar hatten Iacub sofort in Bann geschlagen. Er hatte sie eingestellt und gehofft, sie würde ihn mehr als nur mögen. Es war ein Traum gewesen. Er hatte sich erfüllt und war um einen weiteren Traum ergänzt worden. Iacub wünschte, ihm würden die Räume, in denen er Kunst aufhängte, ebenso gehören, wie Helens Liebe.

      Drei Martini in einer Bar hatten das Antlitz der Obdachlosen aus Helen Kopf vertrieben. Sie war wütend auf sich, sah sich nicht als ängstliche Frau, und doch war sie eher aus dem Restaurant geflohen als abrupt von dort aufgebrochen. Wütend über