In 180 Metern Entfernung presste sich 18 auf die Erde und wagte kaum zu atmen. Er lag in einer kleinen Senke, hinter einer ausladenden Eiche, zugedeckt von der Nacht. Nicht einmal der Mond vermochte ihn hier zu sehen, doch 18 konnte seine Paranoia nicht so leicht abschütteln wie Chen. Er wusste, wozu diese Wesen in der Lage waren, obwohl er noch nie in seinem Leben so nahe an eins herangekommen war. Sein gesamtes Wissen stammte aus den endlosen Briefings, die Mr. Larousse im Basisstützpunkt durchgeführt hatte. Es war schwer gewesen, nicht zu grinsen, als der fromme Geistliche ihnen – vierzig ruppigen, derben Veteranen, Ehemaligen der Special Forces – Vorträge über Themen wie das Höllenfeuer und unsterbliche Dämonen gehalten hatte, als ob es das alles wirklich gäbe. Offensichtlich war es Blödsinn. Buhmänner und Märchen für Denkbehinderte. Aber dafür, was er ihnen zahlte, waren sie willens, das Geschwätz von Larousse in Kauf zu nehmen. Die meisten Privatarmeen mussten für ein Gehalt, wie Larousses »Synode« es zu bieten hatte, mindestens die Regierung eines kleineren afrikanischen Staates stürzen. Aber 18 und seine Kollegen hatten so gut wie gar nichts dafür machen müssen. Ein paar beschissene Patrouillen durch die nächtliche Landschaft, gelegentlich eine Razzia, die nie etwas brachte, und einige Sonntagsschulpredigten über Feuer und Schwefel. Es war leichtverdientes Geld, für das man sich nicht vor einem einzigen böswillig abgefeuerten Schuss ducken musste.
18 hatte damit gerechnet, auf diese Weise gemütlich in den vorzeitigen Ruhestand zu schippern, bis er das Ziel der heutigen Nacht überprüft hatte: einen chinesischen Kerl, der sich selbst auf diese Farm eingeladen hatte. Und der, obwohl er im Freien stand, nur ein paar hundert Yards entfernt, und eine dünne Jacke und Jeans trug, überhaupt keine Signatur auf dem Wärmebildscanner zeigte. Nicht einmal seine Hände. Nicht einmal sein Gesicht. Und warum zum Teufel trug er bei Nacht eine Sonnenbrille?
Oh Scheiße!
Was 18 zum Wegrennen veranlasste, war weniger die Erkenntnis, dass der Buhmann wirklich existierte, als vielmehr seine eigene Torheit. Er hatte sich nämlich dem Ziel von heute Nacht genauso genähert, wie er an die letzten fünfzig herangegangen war: auf eine alles andere als professionelle Weise. Er hatte auf dem Feldweg hinter der Farm geparkt, war durchs Unterholz gestampft und getrampelt, hatte sich am Waldrand aufgebaut und die Titelmelodie von Star Wars gesummt, während er seinen Wärmebildscanner herauskramte. Denn soweit es 18 betraf, war er bloß hier, um Bilder von ein paar Bauern zu machen und sie von seiner Liste abzuhaken. Job erledigt, zurück zur Basis für einen heißen Kakao und Marshmallows. Beim Auskundschaften eines Trainingslagers in Helmand oder einer Waffenfabrik im Sudan wäre er das Ziel mit Sicherheit anders angegangen. Aber das hier war eine Farm in Sussex, bemannt mit ein paar vom Traktor tauben Kartoffelfressern. Wie viel Tarnung sollte man da schon brauchen? Das war sein erster Fehler gewesen. Ohne dass er es ahnte, hatte 18 bereits einen zweiten gemacht, und dieser war noch fataler. Weil er weggerannt war, hatte er die Ankunft des Dukes und der anderen verpasst. Nun waren sie im Haus, außerhalb der Reichweite seines Nachtsichtgeräts.
Alles, was 18 sah, war Chen, der mit einer Flinte über der Schulter am Grundstückszaun auf und ab ging. Und das Beste, worauf er hoffen konnte, war, dass Chen ihn nicht sah.
Kapitel 4
Sebastian war tief in Gedanken versunken, von denen sich die meisten darum drehten, wie pervers Vanessa wohl war. Sie war in einem Alter, in dem sie wahrscheinlich die meisten Sachen schon gesehen und getan hatte. Und diese Börsen-Strippenzieher-Überfliegertypen standen alle auf echt abgefahrenen Kram, das wusste jeder. Zumindest behaupteten das die Jungs in Sebastians Putzkolonne: Bondage, SM, Latex und Gruppensex. Und das war noch das harmlosere Ende des Spektrums. Die waren einfach anders drauf als normale Leute. Sie brauchten extremere Reize, um auf Touren zu kommen.
Sebastian war selbst keine Mimose, aber er wusste, was ihm gefiel und was nicht. Manch einer hätte vielleicht gesagt: »Woher willst du das wissen, wenn du es nicht ausprobiert hast?«, worauf Sebastian geantwortet hätte: »Ich habe mir auch noch nie mit einem Hammer auf die Hand gehauen, aber ich bin trotzdem ziemlich sicher, dass mir das nicht gefällt.« Einer der Jungs hatte gesagt, er solle sich keine Sorgen machen. Falls sie etwas ausprobieren wollte, wobei Sebastian sich unsicher wäre, müssten sie vorher einfach nur ein Safeword vereinbaren – so was wie »Pfirsich« oder »Rübenkraut« oder »Portillo« oder irgendwas. Anstatt die Nachbarschaft mit Schreien wie »Aah, hör auf! Hör auf! Ich mag das nicht!«, zu wecken – was in manchen Kreisen durchaus bedeuten könne: »Ich bin ein böser Junge, hör bloß nicht auf und dreh daran, während du es reinrammst!« – müsste er dann bloß »Rübenkraut« sagen und sie würde ihn sofort losbinden, die Krokodilklemmen abziehen und sich die Hände waschen gehen. Das erfüllte Sebastian zwar nicht gerade mit Zuversicht, aber es war immerhin ein Plan.
»Wer bist du?«, unterbrach eine Stimme aus dem Nichts seinen Gedankenfluss. Sebastian erschrak fast zu Tode und hätte beinahe mit einem spontanen Boxhieb geantwortet.
»Jesus! Warum zur Hölle schleicht ihr euch so an jemanden an? Wollt ihr unbedingt die Fresse poliert kriegen?«, fragte er die beiden acht und zehn Jahre alten Jungen, die direkt hinter ihm standen.
»Wartest du auf jemanden?«, erkundigte sich der Zehnjährige.
»Sieht man das?«, erwiderte Sebastian.
»Du wohnst nicht in der Gegend, oder?«, stellte der Junge fest.
»Gottseidank nicht.« Sebastian ließ seinen Blick über den Parkplatz hinweg auf die mondbeschienenen Felder und skelettartigen Bäume schweifen. »Was für ein Scheißkaff!«
Jeder Ort mit so wenig Neonlicht konnte nur ein Drecksloch sein.
Die Jungs waren nicht für das Landleben angezogen. Sie sahen mit ihren Pseudo-Designerlabels und gefälschten Markenklamotten eher wie die Straßenkids in seiner Wohnsiedlung in Hackney aus, und doch standen sie hier, unbeaufsichtigt und unbekümmert trotz des Fremden in ihrer Mitte. Vielleicht warteten sie auch auf Vanessa?
»Solltet ihr nicht längst im Bett sein, Jungs?« Sebastian zeigte auf die Bahnhofsuhr, deren Stundenzeiger schon die Neun erreicht hatte und keine Anstalten machte, langsamer zu werden.
»Ich muss erst um zehn ins Bett«, erklärte der Ältere.
»Zehn Uhr! Das ist ja unerhört. In deinem Alter durfte ich nie so lange aufbleiben.« Augenblicklich wurde Sebastian peinlich bewusst, dass es Äußerungen wie diese waren, die ihn langsam in Richtung »mittleres Lebensalter« schoben.
»Was für ein Arschgesicht!«, schlussfolgerte der Jüngere auch prompt.
Ohne weitere Umstände stellte der Ältere sich und seinen Bruder als Mick und Nick vor, Generalbevollmächtigte für Christ’s Hospital und alles, was darin war. Außerdem berichtete Mick, dass er und sein Bruder sich momentan auf der Flucht vor ihrer Mutter befänden, da ein kleiner familiärer Streich etwas aus dem Ruder gelaufen sei.
»Gib uns ein Pfund«, forderte Mick schließlich, als ob das die logische Konsequenz aus dem gerade Erzählten wäre.
»Wofür? Dass ihr eure Schwester in einen Teich geschubst habt?«, fasste Sebastian die Anekdote knapp zusammen.
»Nein, für was Süßes«, stellte Mick klar.
»Hat euer alter Herr euch nie gesagt, dass man nicht mit Fremden spricht?«
»Und deiner?«, konterte der kleine Nick.
»Der war nicht da, um mir irgendwas zu sagen. Ich bin in einem Waisenhaus aufgewachsen. Ich kannte ihn noch nicht mal«, erklärte Sebastian. Ein verständnisvoller Ausdruck geteilten Schmerzes verdunkelte Micks Gesicht.
»Mein Dad ist in Afghanistan«, sagte er leise und blickte ins Leere. In diesem Moment erschien es Sebastian, als trüge Mick eine größere Last auf seinen schmalen Schultern, als einem Jungen seines Alters aufgebürdet werden sollte.
»Oh, tatsächlich?« Sebastian schämte sich ein wenig, weil er so abweisend zu den Jungs