»Er hat sich mehr genommen, als ihm zusteht«, erklärte Henry.
»Nein, habe ich nicht.«
»Sechzehn über deiner Quote, allein schon dieses Jahr. Und vom letzten Jahr wollen wir lieber gar nicht reden«, beschuldigte ihn der Duke.
»Das ist eine Lüge!«, quiekte Thomas, aber alle erkannten die Wahrheit, wenn sie sie hörten.
Der Duke besiegelte Thomas' Schicksal mit einer letzten Enthüllung: »Er hat nicht nur zu viele genommen, er hat sie zu jung genommen.«
Boniface begriff endlich. »Der Junge aus der Zeitung?«
»Wohl eher die Jungen.« Henry warf eine Zeitung auf den Tisch. Mehrere kleine Jungen lächelten von der Titelseite zu den Mitgliedern des Zirkels auf. Über ihren Fotos stand die Schlagzeile »Unsere Herzen brechen«.
»Das war ich nicht«, stieß Thomas hervor. »Ich habe sie nicht geholt. Ehrlich, das habe ich nicht. Ich schwöre es.«
Aber so wenig Boniface Henry auch vertraute, wusste er doch, dass dieser keine grundlosen Beschuldigungen aussprach.
»So, das warst du also nicht?« Boniface lenkte die ganze erbitterte Härte in seinem Blick vom Duke weg auf Thomas.
Der drückte sich noch immer im Raum herum, linste hektisch nach möglichen Ausgängen und musste zusehen, wie seine Kollegen nun von ihren Stühlen aufstanden, um alle Auswege zu blockieren. Diese Versammlung war nicht ansatzweise so gelaufen, wie er gehofft hatte. In der Vergangenheit hatte er sich immer über die Zusammenkünfte mit den anderen gefreut. Für Kreaturen wie ihn war es ein Luxus, die Maske fallen lassen zu können, ausnahmsweise einmal ganz sie selbst zu sein. Jetzt wurde ihm plötzlich klar, dass er umso mehr auf der Hut hätte sein sollen.
Die Mienen seiner Zeitgenossen verrieten ihm alles, was er wissen musste. Der Duke und Henry waren offensichtlich tief von ihm enttäuscht, Angel war fassungslos, Boniface schockiert. Und Alice? Ihr Gesichtsausdruck gab nur selten ihre wahren Gefühle preis, was sie zu der größten Gefahr innerhalb der Gruppe machte.
Thomas wurde die Enge des Farmhauses nun überdeutlich bewusst. Er sehnte sich danach, draußen zu sein, im Freien, mit einem soliden Vorsprung vor denen, die er als seine Freunde betrachtet hatte. Ein paar Yards würden genügen. Henry und Angel waren schnell, aber Thomas konnte noch schneller sein, wenn er den Sensenmann im Nacken hatte.
»Ich war's nicht. Ich war’s nicht. Ich … ich …«, fing Thomas an zu lügen, bevor ihm klar wurde, dass er seine Strategie ändern musste, wenn er sich etwas Zeit erkaufen wollte. Er wandte sich an Boniface und versuchte, Verwirrung zu stiften, indem er seinerseits eine taktische Beschuldigung vorbrachte: »Du sagst doch immer, wir sollten uns nehmen, wen wir wollen.«
Er musste bloß einen kleinen Zweifel in den Köpfen der anderen säen, gerade genug, um sich eine zweite Chance zu erkaufen, und dann wäre er hier raus – zur Hölle mit dem Zirkel und seinen Regeln.
Aber Boniface biss nicht an. Er schüttelte lediglich verzweifelt den Kopf.
»Aber nicht so. Nicht ohne unsere Zustimmung.«
»Wegen diesem Schwachkopf bekommen wir noch alle eine Strafe«, stellte sich schließlich auch Alice auf die Seite der übrigen.
»Aber du hast gesagt …«, winselte Thomas. Sein Finger deutete von einem zum anderen. »Und du. Und du … und du.«
Kollektives Schieflegen der Köpfe.
»Schon gut, schon gut, ich höre auf. Ich werde mich ab jetzt an meine Quoten halten. Versprochen. Ich werde dich nicht noch einmal enttäuschen.« Thomas appellierte jetzt direkt an den Duke.
»Wenn es doch bloß so einfach wäre«, blitzte der ihn zornig an.
In Gedanken arbeitete Thomas schon an seinem Plan B. Der Erste, der ihm zu nahe kam, würde die Augen verlieren, der Nächste die Kehle. Seine Klauen versteiften sich und seine Zähne vergrößerten sich bereits erwartungsvoll. Er war mit so viel Gestrampel und Gezeter auf diese Welt gekommen, dass er seine eigene Mutter dabei getötet hatte, und er würde verdammt noch mal sicherstellen, dass er nicht in die nächste Welt ging, ohne ein paar seiner Kollegen mitzunehmen.
Doch es waren bereits Vorkehrungen getroffen worden. Und die Falle war schon gestellt.
Chen war zurückgekehrt, ohne dass Thomas es bemerkt hatte, und diesmal stellte er die Flinte nicht beim Eintreten ab. Stattdessen zielte er direkt auf Thomas' Bauch … und zog den Abzug durch.
Kapitel 6
18 hörte den Schuss und ging instinktiv in Deckung. An dem gedämpften Knall konnte er erkennen, dass im Inneren des Hauses geschossen worden war, und nicht etwa in seine Richtung, aber 18 hatte eine einfache Weltanschauung: Es war besser, vor Schüssen in Deckung zu gehen, die nicht ihm galten, als nicht vor jenen in Deckung zu gehen, die ihm galten. Diese Taktik hatte ihn heil durch drei Kriege und eine Ehe gebracht, und er hatte nicht vor, etwas daran zu ändern. Besonders nicht heute Nacht.
Es gab keine weiteren Schüsse, nur Schreien und Flehen. 18 konnte die Worte nicht verstehen, aber er kannte den Tonfall. Es hörte sich in jeder Sprache gleich an.
Tatsächlich sprach Thomas Englisch; allerdings war er vor Todesangst in seinen ursprünglichen Dialekt zurückgefallen: Eine Version des Englischen, die zuletzt gesprochen worden war, bevor die Armada ihre Segel gesetzt hatte.
»… náwiht … hámsócn … álynian … mildheortnes … liss …«
Henry stammte aus einer anderen Zeit, daher sagten die Worte ihm nichts; doch wie 18 erkannte er den Sinn: »Bitte tötet mich nicht.« Es war einerlei. Thomas' Zeit war abgelaufen. Das Urteil war gesprochen. Jetzt musste es vollstreckt werden.
Angel und Chen hielten Thomas an den Armen fest. Der Schuss hatte ihn auf seinen Stuhl geworfen und die Lieutenants des Dukes hielten ihn nieder, wehrlos und um Gnade bettelnd – genau wie es Thomas' kleine Opfer zweifellos getan hatten.
Henry sah sich nach einem Hilfsmittel um, mit dem er die Sache beenden konnte, aber er fand nur Schüreisen, Zaumzeugbeschläge, Eierkartons, einige vergessene staubige Schnapsflaschen und ein paar Bilder von Oma Thatcher. Nichts, was Thomas etwas anhaben könnte. Also improvisierte Henry und brach mit seiner übermenschlichen Kraft ein Bein vom nächsten Stuhl ab.
»Das ist so nicht richtig!«, versuchte Boniface seinen Untergebenen mit einem letzten Appell an den Duke zu retten.
»Vielleicht nicht«, räumte der Duke ein. Die Schwere der Entscheidung zeichnete sich deutlich auf seinem Gesicht ab. »Aber es ist offiziell.«
Er zog eine Urkunde aus seiner Tasche und gab sie Boniface. Hier war es schwarz auf weiß (mit ein bisschen Rot) zu lesen: die offizielle Exekutionsverfügung des Hohen Rates in Budapest. Seit sie unterschrieben worden war, gab es nichts mehr, was irgendjemand noch für Thomas hätte tun können. Falls sie nicht gehorchten, wäre die einzige Wahl, die der Zirkel hatte, sich selbst die Kehlen durchzuschneiden.
»Mach schnell!«, befahl der Duke Henry. »Beende es!«
Das Stuhlbein war ungünstig abgebrochen. Es war praktisch stumpf. Doch Angel und Chen konnten Thomas nicht so lange festhalten, wie Henry brauchen würde, um es anzuspitzen. So musste es reichen. Thomas würde die Qualen eines stumpfen Todes erleiden müssen. Es gab keine andere Möglichkeit.
Thomas ging wieder zum modernen Englisch über, um seinen früheren Freund direkt anzuflehen: »Bitte, Henry, tu es nicht!«
Aber Henry biss die Zähne zusammen. »Es tut mir leid, Thomas, das hast du dir selbst angetan«, gab er zurück, bevor er den provisorischen Pflock in dessen Brust und durch das rasende Herz drückte.
Der entfernte Schrei erschien 18 fast so laut, als würde direkt in sein Ohr gebrüllt.